Totenbuch
Betrachter auch erscheinen mögen.
Capitano Poma ficht das freilich nicht an. Aber
vielleicht meint er es ja auch nicht so, wenn er Drews Leiche als
»unkooperativ« und »störrisch« bezeichnet, als hätten sie einen
Beziehungsstreit mit ihr. Allerdings räumt er ein, dass die körperlichen Veränderungen
nach dem Tod nicht mit den Blutalkoholwerten und dem Mageninhalt
übereinstimmen. Doch anders als Scarpetta findet er, dass man sich auf Essen
und Trinken immer verlassen kann. Offenbar ist das wirklich sein Ernst.
»Die Wahrheit erfahren wir aus dem, was Drew
gegessen und getrunken hat«, wiederholt er einen Satz aus seinem leidenschaftlichen
Vortrag von heute Morgen.
»Eine der vielen Wahrheiten - das mag durchaus
sein«, erwidert Scarpetta, wobei ihre scharfen Worte ihren höflichen Tonfall Lügen
strafen. »Allerdings nicht die, die Sie hören wollen, Ihre Wahrheit beruht
nämlich auf einer Fehlinterpretation.«
»Ich glaube, das haben wir bereits oft genug
durchgesprochen«, wirft Benton von seinem Platz in der ersten Reihe aus ein.
»Meiner Ansicht nach hat Dr. Scarpetta sich klar und unmissverständlich
ausgedrückt.«
Capitano Poma fixiert Scarpetta durch seine
3-D-Brille. »Tut mir leid, wenn ich Sie langweile, Dr. Wesley, aber wir müssen
der Sache auf den Grund gehen. Also haben Sie ein wenig Geduld mit mir. Am 17.
April hat Drew eine miserable Lasagne gegessen und dazu vier Gläser von einem
schauderhaften Chianti getrunken, und zwar zwischen elf Uhr dreißig und zwölf
Uhr dreißig in einer hauptsächlich von Touristen besuchten Trattoria an der
Spanischen Treppe. Sie hat bezahlt, das Restaurant verlassen, sich auf der
Piazza di Spagna von ihren beiden Freundinnen verabschiedet und verabredet,
sich in einer Stunde mit ihnen auf der Piazza Navona zu treffen. Doch dort ist
sie nie erschienen. So viel wissen wir. Der Rest bleibt ein Geheimnis.« Durch
seine dicke Brille mustert er Scarpetta und dreht sich dann zu der Reihe
hinter ihm um. »Und zwar teilweise deshalb, weil unsere geschätzte Kollegin aus
den Vereinigten Staaten inzwischen behauptet, sicher zu sein, dass Drew nicht
kurz nach dem Mittagessen am besagten Tag gestorben ist.«
»Das sage ich doch schon die ganze Zeit! Da Sie es
offenbar nicht verstehen, erkläre ich es Ihnen gern noch einmal«, antwortet
Scarpetta.
»Wir müssen weitermachen«, wendet Benton ein.
Aber das geht nicht, denn Capitano Poma ist in
Italien so angesehen und berühmt, dass er praktisch freie Hand hat. Die Presse
nennt ihn den Sherlock Holmes von Rom, obwohl er Arzt und nicht Polizist ist.
Doch das haben alle, auch der Commandante
Generale der Carabinieri, der sich lieber
schweigend im Hintergrund hält und zuhört, anscheinend vergessen.
»Unter normalen Umständen«, beginnt Scarpetta,
»hätte Drew die Mahlzeit einige Stunden nach dem Mittagessen vollständig
verdaut gehabt. Außerdem wären bei der toxikologischen Untersuchung sicher
keine 2,0 Promille Alkohol im Blut festgestellt worden. Zugegeben, Capitano
Poma, Mageninhalt und Blutwerte lassen auf einen Tod kurz nach dem Mittagessen
schließen. Allerdings weisen livor
mortis und rigor mortis - wie ich
hinzufügen muss, ziemlich eindeutig - darauf hin, dass der Tod etwa zwölf bis
fünfzehn Stunden nach dem Mittagessen in der Trattoria eintrat, und diese
Untersuchungsergebnisse sind es, auf die wir uns in der Hauptsache stützen
sollten.«
»Also sind wir schon wieder beim livor mortis«, seufzt
er. »Bitte erklären Sie es mir noch einmal, denn Ihre Untersuchungsergebnisse
wollen mir einfach nicht in den Kopf. Ich fühle mich wie ein Archäologe, der in
irgendwelchen alten Scherben herumwühlt.« Wieder stützt Capitano Poma das Kinn
in die Hand.
»Totenflecken, livor mortis, postmortale
Hypostase - diese Begriffe bezeichnen alle ein und dasselbe Phänomen: Wenn ein
Mensch stirbt, kommt sein Blutkreislauf zum Erliegen, sodass sich das Blut
aufgrund der Schwerkraft in den kleineren Blutgefäßen sammelt. Sie müssen es
sich vorstellen wie den Niederschlag von Sedimenten in einem untergegangenen
Schiff.« Sie spürt, wie Benton sie durch seine 3-D-Brille mustert, und wagt
nicht, seinen Blick zu erwidern. Er ist so anders als sonst.
»Bitte fahren Sie fort.« Capitano Poma unterstreicht
etwas auf seinem Notizblock, und zwar mehrmals.
»Wenn der Körper nach dem Tod lange genug in
derselben Stellung liegen bleibt, senkt sich das Blut dementsprechend - ein
postmortales Phänomen, das wir livor
mortis
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