Totenbuch
total verdreckt, weil ich in der
Gerichtsmedizin nicht geduscht habe. Aber die Garderobe war mir zu öffentlich,
und außerdem hatte ich keine Kleider zum Wechseln dabei. Ich werde nie begreifen,
wie du mich erträgst. Mach dir keine Sorgen um Dr. Seif. Ein paar Monate im
Gefängnis werden ihr guttun.«
»Wahrscheinlich lässt sie ihre
Sendungen dann direkt aus der Strafanstalt übertragen und scheffelt noch
weitere Millionen. Irgendeine Mitgefangene wird ihre willige Sklavin werden
und ihr einen Schal stricken.«
Bull wässert die Beete mit den
Stiefmütterchen. Im Strahl des Gartenschlauchs fängt sich ein Regenbogen.
Wieder läutet das Telefon. »Oh,
Gott«, seufzt Benton und nimmt das Gespräch an. Dann hört er längere Zeit dem
Anrufer zu. Scarpetta findet oft, dass er zu wenig redet, und beklagt sich
darüber, wenn sie sich einsam fühlt.
»Nein«, sagt Benton. »Ich weiß
es zu schätzen, doch es besteht kein Grund für unsere Anwesenheit. Ich kann
zwar nicht für Kay sprechen, aber ich denke, wir werden nur im Weg
herumstehen.«
»Der Capitano«, erklärt er, als
das Telefonat zu Ende ist. »Dein Ritter in schimmernder Rüstung.«
»Lass deine zynischen Sprüche.
Er hat nichts getan, weshalb du ihm böse sein solltest. Bedank dich lieber bei
ihm.«
»Er ist unterwegs nach New York.
Sie wollen Dr. Selfs Penthousewohnung durchsuchen.«
»Wonach?«
»Drew war dort, und zwar, an dem
Abend bevor sie nach Rom geflogen ist. Womöglich hat Dr. Selfs Sohn sich
ebenfalls dort aufgehalten. Es könnte sein, dass er der Mann war, den Lupano
nach Hollings' Schilderung für den Koch gehalten hat. Oft ist die naheliegendste
Antwort die richtige«, erklärt Benton. »Ich habe Drews Flug mit der Alitalia
überprüfen lassen. Und jetzt rate mal, wer in derselben Maschine saß.«
»Soll das heißen, dass sie an
der Spanischen Treppe auf ihn gewartet hat?«
»Jedenfalls ist sie nicht wegen
des golden geschminkten Pantomimen dort geblieben. Das war nur eine Ausrede,
weil sie ihren Freundinnen die Verabredung mit Will verheimlichen wollte. Aber
das ist nichts weiter als eine Vermutung.«
»Sie hatte gerade ihren Trainer
gefeuert.« Scarpetta sieht zu, wie Bull den Gartenteich volllaufen lässt. »Und
zwar nach einer Gehirnwäsche durch Dr. Seif. Möchtest du dazu auch eine
Theorie hören? Will wollte Drew kennenlernen. Doch seine Mutter hat nicht eins
und eins zusammengezählt und keinen Verdacht geschöpft, dass er der Absender
der perversen E-Mails mit der Unterschrift Sandman ist. Und so hat sie, ohne es
zu wissen, Drew mit ihrem Mörder verkuppelt.«
»Wahrscheinlich gehört das zu
den Dingen, die wir niemals erfahren werden«, antwortet Benton. »Viele
Menschen verlernen irgendwann, Lüge und Wahrheit voneinander zu
unterscheiden.«
Bull bückt sich, um die
Stiefmütterchen zu stutzen. Als er aufblickt, späht Mrs. Grimball gerade
wieder einmal oben aus dem Fenster. Während Bull den Sack mit den
Gartenabfällen näher zu sich heranzieht, beobachtet Scarpetta, wie ihre
neugierige Nachbarin zum Telefon greift.
»Jetzt reicht es!«, zischt sie.
Dann steht sie auf, lächelt und winkt.
Mrs.
Grimball schaut zu ihnen hinüber und öffnet das Fenster. Benton verfolgt die
Szene mit unbewegter Miene. Scarpetta winkt weiter, als hätte sie Mrs. Grimball
etwas Wichtiges mitzuteilen.
»Er ist gerade aus dem Gefängnis
freigekommen!«, ruft Scarpetta. »Wenn Sie ihn wieder festnehmen lassen, zünde
ich Ihr Haus an.«
Hastig wird das Fenster
geschlossen. Mrs. Grimballs Gesicht verschwindet.
»Wir kannst du so etwas sagen?«,
entsetzt sich Benton.
»Ich sage, was mir passt«,
erwidert Scarpetta. »Schließlich wohne ich hier.«
Danksagung
Dr. Staci Gruber,
Assistenzprofessorin für Psychiatrie an der medizinischen Fakultät Harvard und
stellvertretende Leiterin des Labors für kognitive Neurologie am McLean
Hospital, möchte ich meinen ganz besonderen Dank ausdrücken.
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