Totenfeuer
noch als deren Retterin dagestanden. Aber vor ihrem Cousin Max als Verräterin. Dazu hätte Mut gehört, Mut und Größe, die sie nicht hatte. Vielleicht hat sie auch befürchtet, Heiner würde Lydia im Fall einer Auswanderung folgen.
Jule klappt das Buch zu und fragt sich, ob sein Inhalt irgendeine Bedeutung für ihren Fall – für einen ihrer Fälle – hat. Indirekt vielleicht. Die Lektüre dieser Zeilen und die Entdeckung des von Roswitha unterschlagenen Briefes von Lydia an ihn haben in Heiner Felk vielleicht das Bedürfnis geweckt, vergangenes Unrecht zu sühnen. Was ihn womöglich das Leben gekostet hat.
Zum Glück hatten die Beckers die Saftflasche noch nicht geöffnet. Laut Frau Becker hatte nur eine Flasche in Heiner Felks privatem kleinen Kühlschrank gestanden, die zweite ist offenbar konsumiert und entsorgt worden. Die Pflegerin, die Heiner Felk am Freitagmorgen tot aufgefunden hat, war bis jetzt nicht erreichbar, sie hat erst morgen früh wieder Dienst. Die Saftflasche, die Frau Becker entgegen der Vorschrift mit nach Hause genommen hat, befindet sich jetzt im Rechtsmedizinischen Institut.
Jule steht auf. Nun, wo sie eben der kalte Hauch der Geschichte gestreift hat, kommt ihr ihr eigenes kleines Unglück geradezu lächerlich vor. Sie macht die Bürotür hinter sich zu und geht, wie heute Morgen schon, zu Fuß nach Hause. Neun Uhr, ein schöner Abend, fast schon sommerlich. Eigentlich könnte sie noch bei Thomas und Fred klingeln und mit den beiden ihre Verbeamtung mit einer Flasche Rotwein und einem dicken Joint feiern.
Pedra Rodriguez hat ihre Lesebrille auf und sitzt über ihrer Buchführung, als Fernando die Küche betritt. »Ist Esmeralda schon im Bett?«, fragt er leise.
Seine Mutter nickt. »Ja, zum Glück. Sie ist ganz schön anstrengend. Gott möge mir verzeihen, aber was bin ich froh, wenn sie wieder weg ist!«, stöhnt Pedra und schlägt ein Kreuz über ihrer Brust.
»Ich auch. Ach, und schöne Grüße von meiner Verlobten Jule. Sie kommt am Samstag zum Essen.«
»Danke«, murmelt Pedra verlegen.
Fernando setzt sich verkehrt herum auf einen Stuhl und sagt: »Mama, ich möchte was mit dir besprechen.«
Pedra nimmt die Brille ab und sieht ihren Sohn an. Fernando bekommt prompt ein mulmiges Gefühl im Magen. Er fühlt sich schlecht. Schlecht und undankbar und hinterlistig. Er sucht noch nach Worten, als seine Mutter fragt: »Möchtest du ausziehen?«
Fernando bleibt vor Verblüffung der Mund offen stehen. Hat er richtig verstanden? »Was?«
»Möchtest du ausziehen, in eine eigene Wohnung?«
»Wo… woher weißt du das?«
»Ich bin deine Mutter!«
»Also, ich habe da eventuell … es ist noch gar nichts entschieden, aber ich könnte vielleicht ein Zimmer in einer WG bekommen, in der Nordstadt. Das ist ja nicht gar so weit weg, ich würde dir natürlich weiterhin im Laden helfen, und am Samstag …«
»Es ist gut, Fernando«, unterbricht Pedra das Gestammel. »Du bist in der Tat alt genug, höchste Zeit, dass du hier rauskommst. Vielleicht lernst du dann endlich, Ordnung zu halten, und findest ein vernünftiges Mädchen. Ich komme schon zurecht. Wenn ich einsam bin, kann ich ja an einen Studenten vermieten, und wenn ich Hilfe im Laden brauche, dann stelle ich eine Hilfskraft ein. Willst du deine Möbel mitnehmen, oder kaufen wir was bei Ikea ?«
Oda streckt sich lang auf dem Sofa aus. Die Massage von Herrn Tang war noch viel besser als beim letzten Mal, auch wenn er dabei wieder das Blaue vom Himmel erzählt hat. Als er sie nach dem Rauchen fragte, hat Oda nur gesagt, es sei alles in Ordnung – was er nun ganz nach seinem Gusto interpretieren kann.
»Mama?« Oda schreckt zusammen und blinzelt, sie muss eingeschlafen sein. Veronika steht vor ihr. »Ich muss dir was erzählen.«
»Was denn?«
Veronika lässt sich in den Sessel plumpsen und sagt: »Als du an Ostern bei Opa in Frankreich warst, haben wir hier gefeiert.«
»Ich weiß.«
»Wir haben auch gekokst.«
»So so.« Oda versucht, überrascht, aber nicht zu entsetzt auszusehen. »Weißt du, das finde ich nicht so schlimm. Es ist normal, dass man als Jugendlicher was ausprobiert, das habe ich auch gemacht, man muss nur …«
»Ja, ja, das weiß ich doch alles«, unterbricht Veronika den Sermon. »Aber darum geht es doch gar nicht.«
»Nicht?«
»Nein. Dieses Zeug, das war … wie soll ich sagen, das war anders, als wenn man kifft.«
»So so.«
»Ich bin davon gar nicht high geworden oder so. Ich war nur furchtbar
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