Totenflut
vorstellen, was ich empfinde, wenn ich dort sitze? Nein, das können Sie nicht. Dafür kann ich nicht nachempfinden, wie es ist, auf Ihrem Stuhl zu sitzen. Wollen Sie sehen, was Sie als Nächstes erwartet? Natürlich wollen Sie. Neugier ist ein Teil Ihrer Natur, nicht wahr?«
Axel drückte einen weiteren Knopf auf der Fernbedienung, und eine in den Stein eingelassene Videoanlage mit drei Ãberwachungsmonitoren sprang an. Die Monitore zeigten Bilder von der StraÃe und von dem Gebäude. Auf dem Kubus stand ein Beamer, der einen Lichtkegel auf die Wand gegenüber warf. Ein riesiges Bild von Annette Krüger erschien. Sie saà auf dem Stuhl, genau wie Elin jetzt, nur dass sie nackt war. Elin blickte entsetzt auf das Bild. Alles, was sie sich versucht hatte auszumalen, was sie sich vorgestellt hatte, lief plötzlich so real vor ihren Augen ab, dass etwas in ihr zerbrach. Es war, als würde ihr Herz brechen. Sie weinte, als Annette Krüger anfing, um ihr Leben zu betteln.
»Bitte, bitte, tun Sie mir nichts! Bitteee! Ich will nach Hause! Bitte, bitte! Ich will zu meiner Mama, meine Mama, Mama, Mamaaaa!«
Das Bild verschwamm vor Elins Augen. Ihre Lippen zitterten.
»Faszinierend, nicht? Alle werden wieder zu Kindern, zu Babys im Angesicht des Todes. Sie schreien nach ihrer Mutter. Alle tun das! Ist das nicht unglaublich? Wie wichtig muss eine Mutter für einen Menschen sein?«
Er beugte sich zu Elin herunter. Sein Gesicht war ganz nah an ihrem. Sie spürte seinen Atem auf ihrer nassen Haut. Er war kalt. Eiskalt. Plötzlich dröhnte ein lautes Donnern wie ein Kanonenschlag durch das Gebäude. Axels Kopf fuhr herum. Auf einem der Monitore sah man ein Auto, das gegen das Haupttor gefahren war. Es setzte wieder zurück.
Schröder war einfach aus voller Fahrt gegen das Tor gerast. Die Airbags waren ausgelöst worden, und Schröder musste das weiÃe Kissen zerschneiden, um wieder etwas sehen zu können. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr zurück bis auf den anderen Gehweg. Dann schoss er wieder auf das Tor zu. Doch auch bei diesem Versuch konnte er das Tor nicht brechen. Mit quietschenden Reifen setzte Schröder erneut zurück, warf den ersten Gang ein und drückte das Gaspedal durch. Die Reifen drehten durch, bekamen Asphalt zu fassen, griffen, und das Auto beschleunigte. Diesmal sprang das Tor auf. Schröder raste in eine Halle und rammte Weises Wagen. Mit vorgehaltener Waffe stieg er aus seinem zerbeulten Auto.
Die Halle war leer, doch da war eine Tür. Sie führte in die zweite Halle, in der der Kubus stand. Schröder wuchtete die Stahltür auf und sicherte den Raum. Er wollte Elin finden, musste Elin finden, deshalb registrierte er nur beiläufig den Wasserwürfel und dessen Inhalt. Auch dem Video, in dem Axel gerade Annette in den Kerker stieà und das Gitter schloss, schenkte er nur wenig Aufmerksamkeit. Hinter dem Stuhl, an dem noch die abgetrennten FuÃfesseln Elins hingen, entdeckte er eine weitere Tür. Das war die einzige Fluchtmöglichkeit aus dieser Halle. Er lief hinüber und drückte die schwere Eisentür auf.
Es goss in Strömen. So sehr, dass der gesamte Hof zentimeterdick unter Wasser stand. In der Mitte des Hofes stand Axel Brender. Auch Schröder musste erkennen, dass es Weise nicht mehr gab. Dieser Mann hatte niemals existiert, war nie etwas anderes als eine Illusion gewesen. Die Wahrheit wartete dort im Hof auf ihn. Doch was ihn beunruhigte, war, dass nirgends eine Spur von Elin zu sehen war.
Schröder fixierte Axel über den Lauf seiner Waffe hinweg. Mit ausgebreiteten Armen stand er da, als wolle er sich stellen oder Schröder wie einen alten Freund empfangen.
»Ich weiÃ, dass jetzt alles vorbei ist! Sie haben mich gefunden! Hier endet alles!«, sagte Axel.
Schröder machte vorsichtig einen weiteren Schritt nach vorn.
»Wo ist sie?«, fragte Schröder. Er musste fast schreien, um gegen das Rauschen des Regens anzukämpfen.
»Es war mein Pech, dass das Schicksal zwei Menschen wie Sie und Frau Nowak zusammengeführt hat! Es gibt Dinge, die kann man nicht kalkulieren. Sie ist eine sehr starke Person, wissen Sie, aber auch gleichzeitig so schwach!«
»Wo ist sie?«, schrie Schröder noch lauter und streckte Axel seine Waffe entgegen. Axel schloss die Augen und lächelte genussvoll. Schröder hielt das nicht aus. Er sprang nach vorn, packte Axel an
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