Totenkünstler (German Edition)
stehen, die sie mit beiden Händen festhielt. Ihr Blick wirkte verloren und starr. Hunter fiel die leichte Schaukelbewegung ihres Oberkörpers auf. Sie stand ganz eindeutig unter Schock. Ein uniformierter Polizist leistete ihr Gesellschaft.
»Hat schon jemand mit ihr gesprochen?«
»Ja, ich.« Garcia nickte. »Ein paar grundlegende Informationen konnte ich ihr entlocken, aber sie macht dicht, man kommt nicht an sie ran – was mich nicht weiter überrascht. Vielleicht kannst du es später noch mal versuchen. Du bist in solchen Dingen besser als ich.«
»Sie war an einem Sonntag hier?«, fragte Hunter.
»Sie ist jedes Wochenende hier«, klärte Garcia ihn auf. »Sie heißt Melinda Wallis. Pflegeschülerin an der UCLA. Steht kurz vor dem Abschluss. Der Job war Teil ihrer Praxisstunden. Eine Woche nachdem die Krankheit bei Mr Nicholson diagnostiziert wurde, hat sie hier angefangen.«
»Und die übrige Zeit?«
»Mr Nicholson hatte noch eine andere Pflegekraft.« Garcia zog den Reißverschluss seines Overalls auf und fischte ein Notizbuch aus der Brusttasche seines Hemds. »Amy Dawson«, las er vor. »Im Gegensatz zu Melinda ist Amy keine Pflegeschülerin, sondern examinierte Krankenschwester. Sie hat Mr Nicholson unter der Woche betreut. Außerdem hat er jeden Tag Besuch von seinen zwei Töchtern bekommen.«
Hunter hob die Brauen.
»Sie wissen noch nicht Bescheid.«
»Das Opfer hat also allein hier gewohnt?«
»Richtig. Der Mann war achtundzwanzig Jahre lang verheiratet, aber seine Frau ist vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen.« Garcia steckte das Notizbuch wieder weg. »Die Leiche ist oben.« Er deutete zur Treppe.
Auf dem Weg nach oben achtete Hunter darauf, nicht den Kriminaltechnikern in die Quere zu kommen. Der Treppenabsatz im ersten Stock sah aus wie ein Wartezimmer – zwei Stühle, zwei Ledersessel, ein kleines Bücherregal, ein Zeitschriftenständer und eine Anrichte, auf der mehrere Bilder in geschmackvollen Rahmen standen. Ein schwach beleuchteter Flur führte sie tiefer ins Haus hinein, zu den insgesamt vier Schlafzimmern und zwei Bädern. Garcia ging mit Hunter bis zur letzten Tür rechts. Davor blieb er stehen.
»Ich weiß, dass du schon viel Abartiges gesehen hast, Robert. Da geht es dir wie mir.« Seine latexbehandschuhte Hand lag auf dem Türknauf. »Aber das hier … so was hätte ich mir nicht mal in meinen schlimmsten Träumen vorstellen können.« Er stieß die Tür auf.
4
Hunter stand im Türrahmen des geräumigen Schlafzimmers. Seine Augen nahmen alles wahr, doch sein Verstand hatte Mühe, das Gesehene zu begreifen.
Mittig an der nördlichen Wand des Zimmers stand ein höhenverstellbares Doppelbett. Rechts davon auf dem Nachttisch war ein kleiner Sauerstofftank mit Maske zu sehen. Am Fuß des Betts stand ein Rollstuhl. Weitere Möbel waren eine antik aussehende Kommode, ein Schreibtisch aus Mahagoni sowie eine große Schrankwand gegenüber vom Bett. In der Mitte der Schrankwand stand ein Flachbildfernseher.
Hunter stieß langsam den Atem aus. Er bewegte sich nicht, blinzelte nicht, sagte kein Wort.
»Wo sollen wir hier bloß anfangen?«, flüsterte Garcia neben ihm.
Alles war voller Blut – Bett, Fußboden, Teppich, Wände, Zimmerdecke, Vorhänge sowie fast alle Möbel. Der tote Mr Nicholson lag auf dem Bett. Oder vielmehr: das, was noch von ihm übrig war. Sein Körper war zerstückelt worden. Jemand hatte ihm Arme und Beine abgeschnitten. Einer der Arme war an den Gelenken in kleinere Stücke zerlegt worden. Und beide Füße waren von den Beinen getrennt.
Das Rätselhafteste jedoch war die Skulptur.
Auf einem kleinen Couchtisch am Fenster hatte jemand die abgeschnittenen Gliedmaßen des Opfers zu einem blutigen, bizarren Gebilde zusammengeschnürt.
»Das ist doch nicht euer Ernst«, wisperte Hunter zu sich selbst.
»Ich erspare mir die Frage, weil ich ganz genau weiß , dass Sie so was noch nie gesehen haben, Robert«, meldete sich Dr. Carolyn Hove aus der hinteren Ecke des Zimmers. »Das ist für uns alle Neuland.«
Dr. Hove war die Leiterin des Rechtsmedizinischen Instituts von Los Angeles. Sie war groß und schlank und hatte durchdringende tiefgrüne Augen. Ihre langen kastanienbraunen Haare waren unter der Kapuze ihres weißen Overalls verborgen, ihre vollen Lippen und die zierliche Nase hinter einem Mundschutz.
Hunter sah flüchtig zu ihr hin, dann betrachtete er nachdenklich die großen Blutlachen am Boden. Er zögerte kurz. Es war unmöglich,
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