Totenkünstler (German Edition)
1
»Ach du lieber Gott, ich komme zu spät!«, rief Melinda Wallis und sprang aus dem Bett. Mit müden Augen warf sie einen Blick zum Wecker auf ihrem Nachttisch. Sie war letzte Nacht bis halb vier auf gewesen und hatte für eine Prüfung in Klinischer Pharmakologie gelernt, die sie in drei Tagen schreiben musste.
Schlaftrunken stolperte sie durchs Zimmer, während ihr Gehirn sich darüber klarzuwerden versuchte, was als Erstes zu tun war. Sie lief ins Bad, wo sie einen Blick auf ihr Spiegelbild erhaschte.
»Mist, Mist, Mist!«
Sie griff nach ihrem Schminktäschchen und begann sich das Gesicht zu pudern.
Melinda war dreiundzwanzig Jahre alt und einem Artikel in einem Hochglanzmagazin zufolge, den sie vor einigen Tagen gelesen hatte, für ihre Körpergröße von einem Meter zweiundsechzig ein wenig zu dick. Ihre langen braunen Haare trug sie grundsätzlich zum Pferdeschwanz gebunden, selbst wenn sie abends ins Bett ging, und sie verließ das Haus nie ohne mindestens eine Schicht Abdeckcreme im Gesicht, die die hässliche Akne auf ihren Wangen kaschieren sollte. Statt sich die Zähne zu putzen, quetschte sie sich nur rasch einen Klecks Zahnpasta in den Mund, um den Geschmack der Nacht loszuwerden.
Zurück im Schlafzimmer, fand sie ihre Kleider – weiße Bluse, Strümpfe, knielanger weißer Rock und weiße Schuhe mit flachen Sohlen – ordentlich zusammengelegt auf dem Stuhl neben ihrem Schreibtisch. Sie zog sich in Rekordzeit an und stürzte aus der kleinen Gästewohnung in Richtung Haupthaus.
Melinda war Pflegeschülerin im dritten Jahr an der UCLA, der University of California, und um die erforderlichen Praxisstunden abzuleisten, arbeitete sie jedes Wochenende als Krankenschwester in der ambulanten Pflege. Seit mittlerweile dreieinhalb Monaten betreute sie Mr Derek Nicholson in Cheviot Hills, West Los Angeles.
Keine zwei Wochen vor ihrem Jobantritt hatte man bei Mr Nicholson ein Lungenkarzinom im fortgeschrittenen Stadium festgestellt. Der Tumor war bereits so groß wie ein Pflaumenstein und hatte Metastasen gebildet. Inzwischen hatte Mr Nicholson große Schwierigkeiten beim Gehen, benötigte immer öfter die Hilfe eines Sauerstoffgeräts und konnte kaum noch sprechen. Trotz des Drängens seiner Töchter hatte er eine Chemotherapie abgelehnt. Er sah nicht ein, weshalb er die letzten Tage seines Lebens in einem Krankenzimmer liegen sollte. Lieber wollte er die Zeit, die ihm noch blieb, in seinem eigenen Zuhause verbringen.
Melinda sperrte die Haustür auf und eilte durch die geräumige Eingangshalle, bevor sie das große, aber sparsam möblierte Wohnzimmer betrat. Mr Nicholsons Schlafzimmer lag im ersten Stock. Wie jeden Morgen herrschte im Haus eine fast unheimliche Stille.
Derek Nicholson lebte allein. Seine Frau war zwei Jahre zuvor gestorben. Seine Töchter kamen ihn zwar jeden Tag besuchen, hatten aber ansonsten ihr eigenes Leben.
»Entschuldigung, dass ich mich verspätet habe!«, rief Melinda von unten. Erneut warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie war exakt dreiundvierzig Minuten zu spät. »Mist!«, knurrte sie noch einmal. »Derek, sind Sie wach?« Sie hatte die Treppe erreicht und hastete mit großen Schritten die Treppe hinauf.
Gleich an ihrem ersten Wochenende hatte Derek Nicholson sie gebeten, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen. Er mochte den förmlichen Klang von »Mr Nicholson« nicht.
Als Melinda sich der Tür zu seinem Schlafzimmer näherte, wehte ihr ein strenger, Übelkeit erregender Geruch entgegen.
Oje , dachte sie. Ganz offensichtlich war es für den ersten Gang zur Toilette bereits zu spät.
»Also, ich mache Sie jetzt erst mal sauber …«, begann sie, während sie gleichzeitig die Tür öffnete, »… und dann bringe ich Ihnen Ihr Frühst…«
Ihr ganzer Körper versteifte sich, ihre Augen wurden weit vor Entsetzen, und alle Luft wich aus ihren Lungen, als hätte man sie ins Weltall geschossen. Sie merkte, wie ihr der Mageninhalt hochkam, und erbrach sich gleich neben der Tür.
»Gott im Himmel!«, wollte Melinda hervorstoßen, doch kein Laut kam über ihre bebenden Lippen. Die Knie gaben unter ihr nach, alles um sie herum begann sich zu drehen, und sie musste sich mit beiden Händen am Türrahmen festklammern, um aufrecht stehen zu bleiben. In diesem Moment fiel der Blick ihrer schreckensgeweiteten grünen Augen auf die Wand gegenüber. Zuerst konnte ihr Verstand das, was sie dort sah, gar nicht verarbeiten, doch dann brach eine entsetzliche, rasende Angst über sie herein
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