Totenkünstler (German Edition)
geschnappt und ist wieder raus.«
Hunters Blick ging zurück zur blutigen Wand neben dem Bett, und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er begriff, worauf Garcias Schilderung von der Abfolge der Ereignisse hinauslief.
»Heute Morgen hat Melinda den Wecker nicht gehört. Nach dem Aufwachen ist sie so schnell sie konnte zum Haus gelaufen. Sie hat gesagt, sie hat die Haustür um acht Uhr dreiundvierzig aufgeschlossen. Sie hat auf die Uhr gesehen, weil sie wissen wollte, wie spät sie genau dran war.« Garcia klappte sein Notizbuch zu und steckte es zurück in die Tasche. »Sie ist schnurstracks nach oben, und als sie ins Schlafzimmer gekommen ist, hat sie nicht nur die Leiche gesehen, sondern auch noch diese Botschaft da, die der Täter für sie hinterlassen hat.« Er deutete auf die Wand.
Dort stand zwischen Blutspritzern und Abrinnspuren und in großen blutroten Buchstaben geschrieben:
SEI FROH, DASS DU KEIN LICHT GEMACHT HAST.
6
Ein drückendes Schweigen breitete sich aus. Hunter machte ein paar Schritte auf die Wand zu und betrachtete sehr ausgiebig die Buchstaben.
»Was hat der Täter zum Schreiben benutzt, einen mit Blut getränkten Lappen?«, fragte er.
»Das wäre auch meine Vermutung«, stimmte Dr. Hove ihm zu. »In ein, zwei Tagen wird das kriminaltechnische Labor Genaueres sagen können.« Sie drehte sich von der Wand weg und wandte sich abermals zum Bett. Ihre Stimme zitterte vor Bestürzung. »Das da ist jenseits von Gut und Böse, Robert. Schlimmer als jeder Mord, mit dem ich bis jetzt zu tun hatte. Der Täter muss stundenlang hier im Zimmer gewesen sein. Er hat sein Opfer zuerst gefoltert und dann in Stücke geschnitten. Und als wäre das nicht genug, hat er uns auch noch das da hinterlassen.« Sie wies auf die blutige Skulptur. » Und er hat noch Zeit gefunden, eine Botschaft an die Wand zu schreiben.« Sie sah zu Garcia. »Wie alt ist die junge Frau noch gleich? Die Pflegerin?«
»Dreiundzwanzig.«
»Sie wissen besser als jeder andere, Robert, dass sie Monate, vielleicht sogar Jahre in psychotherapeutischer Behandlung verbringen wird, wenn sie das hier irgendwie verarbeiten will. Falls man so etwas überhaupt verarbeiten kann. Der Täter war im Zimmer, als sie zurückgekommen ist, um ihr Buch zu holen. Wenn sie Licht gemacht hätte, dann hätten wir jetzt zwei Leichen, und sie wäre auch Teil dieses widerwärtigen Dings da.« Wieder deutete sie auf die Skulptur. »Ihre Laufbahn als Krankenschwester ist vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hat, und wahrscheinlich wird sie ihr Leben lang psychisch labil bleiben. Von den Alpträumen und schlaflosen Nächten will ich gar nicht reden. Sie wissen ja aus eigener Erfahrung, wie zermürbend so etwas sein kann.«
Es war kein großes Geheimnis, dass Hunter unter chronischer Hyposomnie litt. Angefangen hatte sie kurz nach dem Krebstod seiner Mutter. Er war damals sieben Jahre alt gewesen.
Hunter war als einziges Kind armer Eltern in Compton, einem sozialen Brennpunktbezirk im Süden von Los Angeles, aufgewachsen. Da er außer seinem Vater keine Familie hatte, war er in seiner Trauer um seine Mutter ganz allein gewesen. Sie fehlte ihm so sehr, dass es ihm körperliche Schmerzen bereitete.
Es fing nach der Beerdigung an. Immer öfter fürchtete er sich vor seinen Träumen, denn jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er das Gesicht seiner Mutter vor sich. Er sah sie weinen, sah, wie sie ihn mit schmerzverzerrten Zügen um Hilfe anflehte und für ihren Tod betete. Er sah ihren einst gesunden, starken Körper, nun so schwach und aufgezehrt, dass sie nicht einmal mehr aus eigener Kraft sitzen konnte. Er sah ihr Gesicht, das früher so wunderschön gewesen war, mit dem strahlendsten Lächeln, das man sich überhaupt vorstellen konnte, und das sich in ihren letzten Lebensmonaten bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte. Und trotzdem hatte er auch dieses Gesicht über alles geliebt.
Der Schlaf wurde für ihn zu einem Gefängnis, dem er um jeden Preis entfliehen wollte. Nicht mehr zu schlafen war die logische Antwort seines Körpers, um die Angst und die schrecklichen Alpträume, die ihn nachts quälten, abzustellen. Ein simpler Abwehrmechanismus.
Hunter wusste nicht, was er auf Dr. Hoves Bemerkung erwidern sollte.
»Wer um alles in der Welt ist zu so was fähig?« Angewidert schüttelte sie den Kopf.
»Jemand mit einer Menge Hass«, sagte Hunter leise.
Plötzlich wurden sie durch lautes Rufen aufgeschreckt, das aus dem Erdgeschoss zu ihnen nach
Weitere Kostenlose Bücher