Totennacht (German Edition)
näher.
Sie hörte Nick und Eric hinter sich. «Spring ins Wasser!», brüllten sie. «Spring!»
Sie wusste, dass ihr eine andere Möglichkeit nicht blieb, und holte zum Sprung aus.
Ein scharfer metallischer Laut hielt sie auf. Es war das Geräusch ihrer Glock, wenn sie durchgeladen wurde. Als sie Charlie getreten hatte, war es ihm gelungen, die Waffe zu ergreifen. Jetzt war der Lauf auf sie gerichtet.
Charlie richtete sich auf und hielt die Waffe mit zitternden Händen. Sie wagte nicht, sich zu rühren, und der Wasserfall war nur noch elf Meter entfernt.
«Nur zu, Charlie, erschießen Sie mich», sagte sie. «Aber es wird Ihnen nichts nutzen. Sie sterben mit mir.»
Ein Blick genügte, und Charlie wusste, was sie meinte. Zum ersten Mal sah Kat eine Gemütsregung in seinen kalten dunklen Augen. Es war Furcht. Die nackte Angst eines Mannes, der keine Chance mehr hatte.
Zehn Meter.
«Was sollen wir machen?», fragte er und kniete sich auf die Planken. «Wie können wir verhindern, dass wir abstürzen?»
Kat heftete ihren Blick auf die Glock. «Werfen Sie das Ding weg, und wir versuchen’s gemeinsam.»
«Wie?»
«Lassen Sie die Waffe fallen.»
Charlie gehorchte. Sie prallte aufs Holz und rutschte ins Wasser. «Verraten Sie mir jetzt, wie.»
Neun.
Kat zeigte auf den Ast einer Eiche, der auf Schulterhöhe über dem Wasser schwebte. Er war ihr schon am Mittwoch, als sie mit Eric die Brücke überquert hatte, als letzte Hoffnung auf Rettung vor dem Absturz aufgefallen. Damals hatte sie nicht ahnen können, dass sie nun tatsächlich ihre letzte Hoffnung darauf setzen musste.
Acht.
«Wir hangeln uns an diesem Ast dort ans Ufer.»
Ob das gelingen konnte, wusste Kat nicht. Aber sie mussten es versuchen.
Sieben.
Sie half Charlie auf die Beine. Schulter an Schulter standen sie der Abrisskante zugewandt und starrten auf den Ast, dem sie sich rasch näherten.
Kat hob beide Hände. Charlie tat es ihr gleich.
Sechs.
«Warum helfen Sie mir?», fragte er.
«Weil Ihre Mutter sich das gewünscht hätte.»
«Trotz allem?»
«Ja», antwortete Kat. «Trotz allem.»
Fünf.
Das Floß rammte einen Fels im seichter werdenden Wasser, das vor den Klippen umso reißender strömte. Sie hatten sich der Abrisskante schon so weit genähert, dass der Rand des Beckens in über zehn Metern Tiefe zu sehen war. Die Felszacken erinnerten Kat wieder an scharfe, gefräßige Zähne.
Vier.
«Hat Maggie wirklich nach mir gesucht?», fragte Charlie.
Kat nickte. «Zeit ihres Lebens.»
Drei.
«Und hat sie mich geliebt?»
«Ja», antwortete Kat. «Mehr als alles andere auf der Welt.»
Zwei.
Sie gerieten in den Sog der weiß schäumenden Stromschnellen unmittelbar vor dem Absturz. Das Floß brach auseinander. Mehrere Planken rissen ab und stürzten in den Abgrund.
Eins.
Der Eichenast schwebte nun unmittelbar über Kat, die schon bis zu den Knien im Wasser stand. Sie erwischte ihn mit der rechten Hand. Beine und Oberkörper trieben weiter nach vorn und zerrten an ihrem Arm. Plötzlich knackte es. Ihre Schulter war ausgekugelt. Vor Schmerzen schreiend, streckte sie die linke Hand aus und bekam den Ast zu packen.
Charlie stand immer noch auf dem sinkenden Floß. Er ließ die Arme hängen und machte keine Anstalten, sich zu retten.
«Was machen Sie?», schrie Kat. «Springen Sie! Noch ist es nicht zu spät ...»
Doch das war es, die letzte Chance war verpasst. Kat wusste es. Auch Charlie wusste es.
Kat warf die Beine in die Höhe und schlang sie um den Ast. Ihre Schulter schmerzte wie verrückt, ihr rechter Arm war kaum zu gebrauchen. Doch sie hatte festen Halt.
Sie sah das Floß vor der Kante zerschellen. Charlie versank im Wasser, ohne sich zu wehren. Schlapp wie eine Stoffpuppe traf er auf einen der Felsen.
Dann wurde wahr, was vor über vierzig Jahren sein Verschwinden fälschlicherweise erklärt hatte. Er stürzte über die Sunset Falls in die Tiefe.
38
Neben einer ausgekugelten Schulter, Prellungen und Schürfwunden hatte Kat drei Rippenbrüche davongetragen, die wahrscheinlich von den Tritten herrührten. Es hätte schlimmer kommen können. Trotzdem musste sie die Nacht im Krankenhaus verbringen, wo ihr mitgeteilt wurde, dass die Überreste von Dennis Kepner gefunden worden waren.
Der Überbringer der Nachricht war Tony Vasquez. Insgesamt drängte sich ein halbes Dutzend Besucher im Krankenzimmer: James natürlich, Lou, Carl und Nick; sogar Glenn Stewart war gekommen. Er stand schweigend an der Wand, abseits der
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