Totenpfad
windzerzausten Gras und dem wackligen blauen Zaun beginnt das Nichts. Nur Sumpfland, kilometerweit, hier und da sind mickrige Ginsterbüsche zu sehen und kreuz und quer verlaufende schmale, hinterhältige Wasserläufe. Um diese Jahreszeit ziehen manchmal große Schwärme von Wildgänsen über den Himmel, das Gefieder rosig verfärbt von den Strahlen der aufgehenden Sonne. Heute allerdings, an diesem grauen Wintermorgen, sieht man weit und breit kein einziges Lebewesen. Alles wirkt blass und verwaschen, Graugrün mischt sich mit Grauweiß, dort, wo das Moor in den Himmel übergeht. Und in der Ferne als dunkelgrauer Streifen das Meer, wo die Möwen auf den Wellen an Land treiben. Es ist eine ganz und gar trostlose Landschaft, und Ruth weiß beim besten Willen nicht, weshalb sie das alles so sehr liebt.
Sie isst ihren Toast und trinkt ihren Tee – eigentlich trinkt sie lieber Kaffee, hebt sich den ordentlichen Espresso aber für die Uni auf – und blättert dabei in ihren Notizen, ein ursprünglich sauber getipptes Skript, das inzwischen aber durch die nachträglich eingefügten, verschiedenfarbigen Anmerkungen zu einem wahren Palimpsest geworden ist. «Gender-Fragen der prähistorischen Archäologie», «Das Ausgraben von Artefakten», «Leben und Tod im Mesolithikum», «Die Bedeutung von Tierknochen bei archäologischen Ausgrabungen». Obwohl der November gerade erst angefangen hat, ist das Wintertrimester schon wieder fast vorbei, und Ruth hat nur noch diese Woche Veranstaltungen. Einen Moment lang sieht sie die Gesichter ihrer Studenten vor sich: ernst, fleißig und ein bisschen langweilig. Inzwischen unterrichtet sie nur noch Doktoranden, und manchmal vermisst sie die Studienanfänger mit ihrer unbeschwerten, immer leicht verkaterten guten Laune. Ihre Studenten sind so schrecklich eifrig, sie lauern ihr nach der Vorlesung auf, um mit ihr über den Lindow-Mann und den Boxgrove-Mann zu diskutieren und darüber, ob Frauen in der prähistorischen Gesellschaft nicht doch eine wichtige Rolle gespielt haben könnten. Schaut euch doch mal um, möchte sie dann manchmal antworten. Spielen Frauen etwa in dieser Gesellschaft eine besonders wichtige Rolle? Wie kommt ihr eigentlich darauf, dass eine Horde grunzender Jäger und Sammler fortschrittlicher gewesen sein soll als unsereins?
Der unvermeidliche «Gedanke zum Tage» dringt aus dem Radio in ihr Unterbewusstsein und erinnert sie daran, dass es Zeit zum Aufbrechen wird: «In mancher Hinsicht ist Gott wie ein iPod …» Ruth räumt Teller und Tasse in die Spüle, stellt ihren beiden Katzen, Sparky und Flint, etwas zu fressen hin und verteidigt sich dabei gegen den unermüdlichen, spöttischen Fragensteller in ihremKopf. «Ja, ich bin eine alleinstehende Frau mit Übergewicht und ohne Anhang. Und ich habe Katzen. Na und? Zugegeben, manchmal rede ich auch mit ihnen, aber ich erwarte immerhin nicht, dass sie antworten, und ich bilde mir auch nicht ein, dass ich für sie etwas anderes bin als eine äußerst praktische Futterquelle.» Wie aufs Stichwort zwängt sich Flint, ein großer, roter Kater, durch die Katzenklappe in der Tür und richtet seine starren, gelben Augen auf sie.
«Kommt Gott in der Liste unserer kürzlich gespielten Songs vor, oder taucht er nur auf, wenn wir die Zufallsfunktion drücken?», ertönt es aus dem Radio.
Ruth streichelt Flint und geht zurück ins Wohnzimmer, um ihre Unterlagen in den Rucksack zu stecken. Sie wickelt sich einen roten Schal um den Hals – ihr einziges Zugeständnis in punkto Farbe: Schals dürfen schließlich auch dicke Leute tragen – und streift ihren Anorak über. Dann macht sie das Licht aus und verlässt ihr Häuschen.
Ruth bewohnt eines von drei kleinen Häusern am Rand des Salzmoors. Das zweite gehört dem Wärter des Vogelschutzgebiets, das dritte ist ein Wochenendhaus, dessen Bewohner im Sommer hier einfallen, die Luft mit Grilldünsten verpesten und Ruth mit ihrem Geländewagen die Aussicht versperren. Im Frühling und im Herbst ist die Straße häufig überschwemmt, im Winter manchmal völlig unpassierbar. «Warum wohnst du nicht etwas zentraler?», fragen ihre Kollegen. «Es gibt doch wunderschöne Grundstücke in King’s Lynn oder auch in Blakeney, wenn du mehr Natur willst.» Ruth kann sich selbst nicht recht erklären, weshalb sie, ein Großstadtkind, im Süden von London geboren und aufgewachsen, sich zu diesem gottverlassenen, unwirtlichen Sumpfland, dem trostlosen Watt, dieser ganzen unerbittlichen
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