Totenpfad
antwortet Clough. «Auf Hinweis einer Passantin, die mit ihrem Hund spazieren war. Das Tier hatte plötzlich einen Knochen im Maul.»
«Haben Sie den noch? Den Knochen, meine ich.»
«Auf dem Revier.»
Ruth fotografiert den Fundort und macht in ihrem Notizbuch eine grobe Lageskizze. Sie befinden sich im äußersten Westen des Sumpfgebiets – hier hat sie noch nie gegraben. Das Strandstück, wo der Henge entdeckt wurde, liegt gut drei Kilometer östlich. Ruth kniet sich auf den schlammigen Boden und macht sich sorgfältig daran, mit einem Plastikbecher aus ihrer Ausgrabungsausrüstung das Wasser abzuschöpfen. Nelson kann seine Ungeduld kaum bezähmen.
«Können wir da nicht mithelfen?», fragt er.
«Nein», antwortet Ruth knapp.
Als das Loch weitgehend wasserfrei ist, schlägt ihr Herzschneller. Vorsichtig schöpft sie einen weiteren Becher Wasser ab, streicht etwas Schlamm beiseite und betrachtet das, was sich dort vor ihr im dunklen Boden abzeichnet.
«Und?» Nelson schaut ihr erwartungsvoll über die Schulter.
«Eine Leiche», sagt Ruth zögernd. «Aber …»
Langsam zieht sie ihre Kelle hervor. Sie darf nichts überstürzen. Eine einzige kleine Nachlässigkeit kann ganze Ausgrabungen ruinieren, das hat sie selbst häufig genug erlebt. Und so trägt sie, dem zähneknirschenden Nelson zum Trotz, ganz behutsam den durchnässten Boden ab. Darunter kommt eine leicht zur Faust geballte Hand zum Vorschein. Um das Handgelenk liegt ein Armband, das offenbar aus Gras geflochten ist.
«Ach du Schande!», murmelt Nelson hinter ihr.
Ruth arbeitet jetzt wie in Trance. Sie markiert den Fund auf ihrem Lageplan, notiert die Ausrichtung. Dann macht sie ein Foto und beginnt erneut zu graben.
Diesmal stößt sie mit der Kelle auf Metall. So langsam und sorgfältig wie zuvor greift Ruth in das Loch und zieht den Gegenstand aus dem Schlamm. Stumpf glänzt er im Winterlicht, wie die Münze im Weihnachtskuchen: ein verbogenes Stück Metall, in der Form eines Halbkreises.
«Was ist das denn?» Nelsons Stimme dringt wie aus einer anderen Welt an ihr Ohr.
«Ich glaube, es ist ein Torques», antwortet Ruth versonnen.
«Und was soll das bitte sein?»
«Ein Halsring. Vermutlich aus der Eisenzeit.»
«Aus der Eisenzeit? Und wann war die?»
«Vor ungefähr zweitausend Jahren», sagt Ruth.
Clough lacht unvermittelt auf, und Nelson wendet sich ohne ein weiteres Wort ab.
Nelson fährt Ruth zur Universität zurück. Er brütet düster vor sich hin, doch Ruth ist ganz außer sich vor Aufregung. Eine Leiche aus der Eisenzeit – denn eine solche Moorleiche muss natürlich aus der Eisenzeit stammen, dieser Epoche ritueller Tötungen und sagenumwobener Schätze! Was hat das zu bedeuten? Der Körper liegt ein ganzes Stück vom Henge entfernt, aber könnten die beiden Funde vielleicht doch zusammenhängen? Der Henge stammt aus der frühen Bronzezeit, mehr als tausend Jahre vor der Eisenzeit. Doch ein weiterer Fund am selben Ort ist kein bloßer Zufall. Ruth kann es kaum erwarten, Phil davon zu erzählen. Vielleicht sollten sie auch die Presse informieren. Ein bisschen öffentliche Aufmerksamkeit wird dem Institut sicher nicht schaden.
Plötzlich sagt Nelson: «Sind Sie sich mit der Datierung ganz sicher?»
«Was den Torques angeht, ja, der stammt mit Sicherheit aus der Eisenzeit, und die logische Folgerung wäre, dass er zusammen mit der Leiche begraben wurde. Aber ganz sicher wissen wir das erst, wenn wir eine 14 C-Datierung durchführen.»
«Was ist das?»
« 14 C ist ein Kohlenstoff-Isotop, das in der Erdatmosphäre enthalten ist. Es wird von Pflanzen aufgenommen, die Pflanzen werden von Tieren gefressen und die Tiere dann wiederum von uns. Das bedeutet, dass wir alle ständig Radiokohlenstoff zu uns nehmen, bis wir sterben. Danach nehmen wir nichts mehr auf, und der Radiokohlenstoff in unseren Knochen zerfällt ganz langsam. Man kann das Alter von Knochen bestimmen, indem man nachweist, wie viel 14 C noch in ihnen enthalten ist.»
«Und wie genau ist diese Methode?»
«Nun, man muss natürlich die kosmische Strahlung einkalkulieren, die die Funde beeinflussen kann … Sonnenflecken,Sonneneruptionen, Atomtests und dergleichen. Aber bis auf ein paar hundert Jahre plus oder minus ist die Methode schon recht exakt. In jedem Fall können wir damit nachweisen, ob die Knochen in etwa aus der Eisenzeit stammen.»
«Wann war denn diese Eisenzeit?»
«Ganz genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen, aber ungefähr von 700
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