Totenpfad
ohne Phil zu beachten.
Ruth tut, als würde sie nachdenken, obwohl sie längst geködert ist. Knochen! Im Salzmoor! Wo sie damals ihre erste, unvergessliche Ausgrabung mit Erik absolviert hat. Das kann alles Mögliche bedeuten. Eine Entdeckung vielleicht. Oder aber …
«Und Sie vermuten einen Mord?», fragt sie.
Nelson sieht zum ersten Mal etwas unbehaglich drein. «Darüber möchte ich lieber nicht sprechen», sagt er ernst. «Zumindest jetzt noch nicht. Können Sie sich die Sache ansehen?»
Ruth steht auf. «Ich habe eine Veranstaltung um zehn. Aber in der Mittagspause hätte ich Zeit.»
«Dann schicke ich Ihnen um zwölf einen Wagen», sagt Nelson.
Zu Ruths heimlicher Enttäuschung schickt Nelson ihr keinen Streifenwagen mit Blaulicht und allem Drum und Dran. Stattdessen kommt er selbst in einem verdreckten Mercedes. Ruth wartet wie vereinbart am Haupteingang, und Nelson bequemt sich nicht einmal aus dem Wagen, sondern beugt sich nur herüber, um die Beifahrertür zu öffnen. Ruth steigt ein und fühlt sich dick und unförmig dabei, wie immer im Auto. Sie wird von der krankhaften Befürchtung geplagt, dass der Gurt einmal nicht um sie herumpassen oder ein versteckter Gewichtssensor einen grellen Alarmton auslösen könnte. «Neunundsiebzig Kilo! Neunundsiebzig Kilo an Bord! Alarmstufe Rot! Schleudersitzfunktion einleiten!»
Nelson mustert ihren Rucksack. «Haben Sie alles, was Sie brauchen?»
«Ja.» Sie hat ihre Taschenausrüstung dabei: eine Spitzkelle, eine kleine Handschaufel, Tiefkühlbeutel für Fundstückeund Bodenproben, Klebeband, Notizbuch, Bleistifte, Pinsel, Kompass und eine Digitalkamera. Außerdem hat sie Turnschuhe angezogen und eine Sicherheitsweste. Entnervt ertappt sie sich bei dem Gedanken, dass sie vermutlich furchtbar aussieht.
«Und Sie wohnen also in der Nähe vom Salzmoor?», fragt Nelson, während er den Wagen mit quietschenden Reifen durch den Verkehr steuert. Er fährt wie die berühmte gesengte Sau.
«Ja.» Ruth hat das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, obwohl sie eigentlich gar nicht weiß, warum. «An der New Road.»
«An der New Road!» Nelson lacht bellend auf. «Ich dachte, da wohnen nur Vogel-Freaks.»
«Der Vogelschutzwart wohnt tatsächlich gleich nebenan.» Ruth versucht, höflich zu bleiben, während sie mit dem Fuß immer wieder unwillkürlich auf eine nicht vorhandene Bremse tritt.
«Für mich wäre das nichts», sagt Nelson. «Viel zu einsam.»
«Mir gefällt es», sagt Ruth. «Ich habe dort eine Ausgrabung gemacht und bin geblieben.»
«Eine Ausgrabung? Was Archäologisches?»
«Ja.» Ruth denkt zurück an den Sommer vor zehn Jahren. Die Abende am Lagerfeuer, wo sie halb verkohlte Würstchen aßen und rührselige Lieder sangen. Das Vogelzwitschern am Morgen, der blühende Strandflieder, der das ganze Sumpfland lila färbte. Die Schafherde, die mitten in der Nacht ihre Zelte niedertrampelte. Die Angst, als Peter bei Flut auf dem Watt festsaß und Erik auf allen vieren herüberkroch, um ihn zu retten. Die fiebrige Aufregung, als sie den ersten hölzernen Pfahl entdeckten, den Beweis, dass der Henge tatsächlich existierte. Ruth hat den Klang von Eriks Stimme noch im Ohr, als er sich umdrehteund ihnen über die nahende Flut hinweg zurief: «Wir haben ihn gefunden!»
Sie sieht Nelson an. «Wir waren auf der Suche nach einem Henge.»
«Einem Henge? So was wie Stonehenge?»
«Ja, genau. Das Wort bezeichnet im Grunde nur einen kreisförmigen Erdwall mit einem Graben drum herum. Im Inneren des Kreises stehen meistens Pfähle.»
«Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Stonehenge eigentlich eine Art riesige Sonnenuhr war. Zur Bestimmung der Uhrzeit.»
«Wir wissen nicht genau, wozu es tatsächlich diente», sagt Ruth. «Aber fest steht in jedem Fall, dass es dabei um Rituale ging.»
Nelson wirft ihr einen merkwürdigen Blick zu.
«Rituale?»
«Ja. Eine Kultstätte für Gaben und Opferhandlungen.»
«Opfer?», wiederholt Nelson. Er wirkt plötzlich ernstlich interessiert, der leicht herablassende Ton ist aus seiner Stimme verschwunden.
«Gelegentlich finden wir Belege für Opferrituale. Gefäße, Speere, Tierknochen.»
«Was ist mit Menschenknochen? Haben Sie auch schon mal menschliche Knochen gefunden?»
«Ja, hin und wieder schon.»
Nach kurzem Schweigen fragt Nelson: «Ist das nicht ein etwas komischer Ort für so ein Henge-Ding? Direkt am Meer?»
«Damals war hier noch kein Meer. Landschaften verändern sich im Lauf der Zeit. Vor
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