Totenpfad
1
Aufwachen hat etwas von Auferstehung. Sich mühsam aus dem Schlaf wühlen, Umrisse erkennen, die sich aus der Dunkelheit lösen, das Klingeln des Weckers hören, wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Ruth streckt den Arm aus und fegt den Wecker zu Boden, wo er vorwurfsvoll weiterklingelt. Stöhnend richtet sie sich auf und zieht die Jalousie hoch. Immer noch dunkel draußen. Das ist doch nicht normal, denkt sie und zuckt zusammen, als sie die kalten Bodendielen unter den Füßen spürt. In der Steinzeit gingen die Leute bei Sonnenuntergang schlafen und erwachten bei Sonnenaufgang. Wie kommen wir eigentlich darauf, dass wir es richtig machen? Man nickt auf dem Sofa vor den Spätnachrichten ein und schleppt sich irgendwann nach oben, nur um dann mit einem Rebus-Krimi wach zu liegen, den BBC World Service zu hören und Grabstätten aus der Eisenzeit zu zählen, damit man doch noch irgendwie einschläft. Und dann wacht man am nächsten Morgen im Stockdunkeln auf und fühlt sich wie tot. Das ist doch einfach nicht normal.
Unter der Dusche gehen die verklebten Augen auf, und das Haar fließt ihr nass den Rücken hinunter. Das wäre dann wohl eine Art Taufe. Ruths Eltern sind Christen, Wiedererweckte Christen, und eifrige Verfechter der Ganzkörpertaufe für Erwachsene. Ruth kann den Reiz daran durchaus verstehen, sie hat nur das kleine Problem, dass sie nicht an Gott glaubt. Trotzdem beten ihre Eltern täglich für sie (täglich!), was allerdings bisher nicht allzu viel genützt hat.
Sie rubbelt sich energisch mit dem Handtuch trocken und starrt mit leerem Blick in den beschlagenen Spiegel. Was sie dort sehen würde, weiß sie, aber dieses Wissen ist kaum tröstlicher als die Gebete ihrer Eltern. Schulterlanges braunes Haar, blaue Augen, helle Haut. Und ganz egal, wie sie sich auf die Waage stellt (die seit kurzem ohnehin in den Besenschrank verbannt ist), sie wiegt doch immer dieselben 79 Kilo. Ruth seufzt – ich definiere mich nicht über mein Gewicht, man ist immer nur so dick, wie man sich fühlt – und drückt Zahnpasta auf die Zahnbürste. Sie hat ein wunderschönes Lächeln, doch im Augenblick lächelt sie nicht, und so ist auch das heute Morgen kein Trost.
Fertig geduscht geht sie auf feuchten Sohlen ins Schlafzimmer zurück. Heute hat sie Vorlesungen und muss sich deshalb etwas offizieller kleiden. Schwarze Hose, weites, schwarzes Oberteil. Fast ohne hinzusehen, nimmt sie die Kleider aus dem Schrank. Dabei mag sie Farben und Stoffe und hat eine ausgesprochene Vorliebe für Pailletten, Glasperlen und Strass. Ihrem Kleiderschrank sieht man das allerdings nicht an: eine einzige düstere Reihe dunkler Hosen und weiter Blazer in gedeckten Farben. Die Schubladen ihrer Kiefernholzkommode sind mit schwarzen Pullovern, langen Strickjacken und blickdichten Strumpfhosen gefüllt. Früher hat sie Jeans getragen, aber seit sie bei Größe 44 angelangt ist, trägt sie lieber Cordhosen, selbstverständlich in Schwarz. Jeans sind ohnehin zu jugendlich für sie. Nächstes Jahr wird sie vierzig.
Als sie angezogen ist, steigt sie die Treppe hinunter. Die Treppe in ihrem Häuschen ist ausgesprochen steil, eigentlich eher eine Leiter. «Da komme ich nie im Leben hoch», hat ihre Mutter bei ihrem ersten und einzigen Besuch verkündet. Und Ruth dachte sich im Stillen: Verlangt ja auch keiner von dir. Ihre Eltern haben in einer Pension ganz inder Nähe übernachtet, weil Ruth kein Gästezimmer hat, es gab also gar keinen Grund für Ruths Mutter, nach oben zu gehen (unten ist sogar auch eine Toilette, allerdings gleich neben der Küche, was Ruths Mutter unhygienisch findet). Die Treppe führt direkt ins Wohnzimmer: abgeschliffener Holzboden, ein bequemes, leicht verschossenes Sofa, ein großer Fernseher mit Flachbildschirm und jede Menge Bücher. Hauptsächlich archäologische Fachbücher, aber auch Krimis, Kochbücher, Reiseführer und Arztromane. Ruths Lektürevorlieben sind bunt gemischt. Sie hat eine Schwäche für Kinderbücher, die von Ballett und Reiten handeln, obwohl sie keins von beidem je ausprobiert hat.
Die Küche bietet gerade genug Platz für einen Kühlschrank und einen Herd, doch Ruth kocht so gut wie nie, trotz der vielen Kochbücher. Jetzt macht sie den Wasserkocher an, steckt Brot in den Toaster und schaltet mit geübter Hand das Radio ein. Dann sucht sie ihre Notizen für die Vorlesung zusammen und setzt sich damit an den Tisch am Fenster. Das ist ihr Lieblingsplatz. Vor ihrem Vorgarten mit dem
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