Totenpfad
vor bis 43 nach Christus.»
Nelson schweigt einen Augenblick, während er diese Informationen verdaut, dann fragt er: «Und wieso liegt da eine Leiche aus der Eisenzeit im Moor?»
«Als Gabe an die Götter. Möglicherweise war sie an Pflöcken festgebunden. Haben Sie das Gras am Handgelenk gesehen? Das könnte eine Art Schnur gewesen sein.»
«Mein Gott. Festgebunden und ihrem Schicksal überlassen?»
«Ja, möglicherweise. Vielleicht war sie aber auch schon tot, als sie dort angebunden wurde. In dem Fall waren die Pflöcke nur zur Fixierung gedacht.»
«Mein Gott», sagt Nelson noch einmal.
Plötzlich fällt Ruth wieder ein, warum sie hier mit diesem Mann in seinem Wagen sitzt. «Wie kamen Sie eigentlich darauf, dass es sich um neuere Knochen handeln könnte?», fragt sie.
Nelson seufzt. «Vor etwa zehn Jahren ist hier ganz in der Nähe ein Kind verschwunden. Wir haben nie eine Leiche gefunden. Ich dachte, vielleicht ist sie das ja.»
«Sie?»
«Sie hieß Lucy Downey.»
Ruth schweigt. Ein Name macht alles gleich viel realer. Deshalb hat ja auch der Archäologe, der den ersten echten Menschen fand, dem Skelett gleich einen Namen gegeben – kurioserweise auch den Namen Lucy.
Nelson seufzt noch einmal. «Ich habe im Zusammenhang mit diesem Fall ein paar Briefe bekommen. Das ist seltsam, was Sie mir da vorhin erzählt haben.»
«Was genau?», fragt Ruth verwirrt.
«Über Rituale und so was. Diese Briefe sind nämlich voll mit allem möglichen krausen Zeug, aber eins kommt immer wieder vor: dass Lucy ein Opfer war und wir sie dort finden werden, wo die Erde auf den Himmel trifft.»
«Wo die Erde auf den Himmel trifft», wiederholt Ruth. «Das kann praktisch überall sein.»
«Richtig. Aber dieser Ort hier, da fühlt man sich doch irgendwie wie am Ende der Welt. Und deshalb … als ich hörte, dass dort Knochen aufgetaucht sind …»
«Da dachten Sie, es könnten ihre sein?»
«Ja. Die Ungewissheit ist das Schlimmste für die Eltern. Wenn wir die Leiche endlich finden würden, hätten sie wenigstens die Möglichkeit zu trauern.»
«Dann sind Sie also sicher, dass sie tot ist?»
Nelson zögert einen Moment und konzentriert sich darauf, kurz vor einer scharfen Kurve einen Laster zu überholen. «Ja», sagt er schließlich. «Eine Fünfjährige, die mitten im November verschwindet und dann zehn Jahre lang nicht mehr auftaucht? Sie muss tot sein.»
«Im November?»
«Ja. Fast auf den Tag genau vor zehn Jahren.»
Ruth denkt an die langen, dunklen Abende, den Wind, der über das Moor heult. Sie stellt sich die Eltern vor, wie sie warten und beten, dass sie ihre Tochter zurückbekommen, wie sie jedes Mal zusammenzucken, wenn das Telefon klingelt, jeden Tag von neuem auf Nachricht hoffen. Und wie die Hoffnung dann nach und nach versiegt und der dumpfen Gewissheit des Verlusts weicht.
«Was ist mit den Eltern?», fragt sie. «Leben die noch hier in der Gegend?»
«Ja. In der Nähe von Fakenham.» Nelson weicht schlingernd einem weiteren Lastwagen aus, und Ruth kneift die Augen zu. «In solchen Fällen», fährt er fort, «waren es ja meistens die Eltern.»
Ruth ist entsetzt. «Die Eltern bringen ihr eigenes Kind um?»
Nelsons Ton klingt sachlich, die nordenglischen Vokale noch dumpfer als zuvor. «In neun von zehn Fällen. Da hat man diese völlig verzweifelten Eltern, Pressekonferenzen, bitterliche Tränen, und am Ende findet man das Kind im Garten hinterm Haus verscharrt.»
«Aber das ist ja furchtbar.»
«Ja. In diesem Fall allerdings … ich weiß nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es nicht waren. Sie sind so ein nettes Paar, nicht mehr sonderlich jung, sie haben jahrelang versucht, ein Kind zu kriegen, und dann kam Lucy. Sie war ihr Ein und Alles.»
«Wie schrecklich für sie», sagt Ruth hilflos.
«Ja, schrecklich.» Nelsons Stimme bleibt ausdruckslos. «Aber sie haben uns nie Vorwürfe gemacht, weder mir noch dem Ermittlungsteam. Sie schicken mir jedes Jahr eine Weihnachtskarte. Darum wollte ich auch …» Er ringt kurz nach Worten. «Ich hätte die Sache einfach gern für sie zu Ende gebracht.»
Sie sind wieder bei der Universität angekommen. Nelson hält mit quietschenden Reifen vor dem Naturwissenschaftsgebäude. Ein paar Studenten auf dem Weg zur nächsten Vorlesung bleiben stehen und schauen herüber. Obwohl es erst halb drei ist, wird es bereits dämmrig.
«Danke fürs Herbringen», sagt Ruth leicht verlegen. «Ich lasse die Knochen für Sie
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