Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Frank
Vom Netzwerk:
vibrieren. Der Mann hatte keine Zunge im Mund, sondern eine Rasierklinge.
    Cunningham!, dachte Darryl, sein Gesicht in finstere Falten geworfen. Er mochte den Mann nicht, sie gaben ihm insgeheim Tiernamen. Dass er hier freiwillig lebte, machte ihn zum verhassten Sinnbild all der Gründe, die Darryl hier hingeführt hatten. Sicher war Country House früher einmal wirklich ein Landsitz gewesen, mit den inzwischen leeren und verrotteten Stallungen und dem großen Wald, der zum Grundstück gehörte, aber heute hatte es einen anderen, offizielleren Namen: Verwahranstalt für jugendliche Verbrecher. Für die meisten, die hier waren, machte es keinen Unterschied mehr, auf welcher Seite der Mauer sie waren, das Leben war für sie immer ein Schlachtfeld. Es waren diese Typen, die Darryl mied wie die Pest, weil sie Ärger bedeuteten. Für sie würden Orte wie dieser stets ein vertrautes Umfeld sein, für Darryl jedoch war es eine neue Erfahrung, eingesperrt zu sein. Es brachte ihn in Rage, daran zu denken, dass draußen seine Geschäftsverbindungen wegplatzten wie morsche Knoten, während er in einer Zelle mit sieben Gestalten wohnte, denen es egal war, ob sie lebten oder nicht. In acht Monaten, dachte Darryl, war alles verloren: keine Käufer mehr, die sich um ihn scharrten.
    Der Junge wusste, dass er Country House vor Ablauf dieser Zeit verlassen musste, um nicht völlig in Vergessenheit zu geraten. Er musste weg hier, bevor er selber nicht mehr an den Mythos der eigenen Stärke glaubte.
    Der Monolog drinnen im Zimmer drohte zu erlahmen, doch plötzlich sprach Cunningham, der Wärter, wieder.
    „Du willst raus aus diesem Loch?“, fragte Cunningham. „Weg von hier? Ich kenn Wege, die nach draußen führen. Ich zeig sie dir, wenn du sie sehen willst, und geb dir den Schlüssel. Ich bring dich hier raus.“
    Zu wem sprach der Mann?, überlegte Darryl. Seine feuchten Hände schlossen und öffneten sich. Um Gottes Willen, zu wem sagte er das? Das Geheimnis, das sich da entblätterte, war heißer als jeder Strip.
    Die Antwort gab keinen Aufschluss über den Namen desjenigen, der sie gab: Darryl hörte einen Seufzer, vielleicht einen kindlichen Schnaufer. Wer immer das war, zu dem Cunningham sprach – es war sicherlich sein Opfer. Der Mann gierte nach Fleisch, den meisten von ihnen hatte er bereits einen Antrag gemacht. Wen von ihnen hatte er noch nicht wie unabsichtlich berührt und mit einem langen Blick bedacht, wie wenn er damit seine Chancen abschätzen wollte. Darin erschöpften sich vermutlich Cunninghams Ambitionen: Er brauchte Jungenfleisch in der Nähe. Hier hatte er es zuhauf.
    Vielleicht war das mittlerweile ein Versprechen, das er jedem gab: Ich zeig dir den Weg, wenn du dich mir zeigst.
    „Junge!“
    Das Scharren eines übernervösen Fußes am Boden war zu hören. „Ja?“
    Darryl schnappte nach dem Wort und ließ es dutzendfach in seinem Kopf widerhallen. Vor Anstrengung runzelte er die Stirn; Konzentration gehörte nicht zu seinen Stärken, jedenfalls dann nicht, wenn sein Schädel nicht drogenumnebelt war. Gesichter erschienen in seinen Gedanken, ein Reigen manchmal schüchtern lächelnder, meist stumpf dreinschauender Gesichter. Am Ende der Parade tauchten verschwommen von Missmut zerfurchte Gesichtszüge auf, und Darryl fingerte endlich den Namen aus dem Schlupfwinkel: Fredric. Kein Zweifel: Dort drinnen war Fredric. Darryl konnte sich gut an den Jungen erinnern, der das weiche Gesicht und die Statur eines Mädchens hatte. Er war ein gesegnetes Opfer, nicht nur jetzt für Cunningham. Es war, als zöge er Ärger und Schläge magisch an, an einem Ort wie diesem konnte er nichts weiter sein als ein Blitzableiter auf klappernden Knochen. Vielleicht lag es an seinem Gesicht, dem man ansehen konnte, wie sich Qual in ihm aufstaute.
    Einmal hatte Darryl versucht, mit dem Jungen ins Gespräch zu kommen, aber ihm waren bestenfalls einsilbige Antworten zu entlocken gewesen, meist jedoch nur Brummlaute, die einen zur Weißglut bringen konnten, und so hatte er Fredric danach ignoriert.
    Wer wollte ihm verdenken, dass er fliehen wollte? Und dass er dafür selbst Cunningham aufsuchte?
    Ein Geräusch ließ Darryl aufhorchen. Cunningham schien sich gesetzt zu haben. Im Raum stand zerstörtes Mobiliar, unter anderem auch ein großer, klobiger Ledersessel, der einst im Direktorenzimmer gewesen war. Jetzt knarrten seine schlaffen Federn.
    „Komm doch näher, Junge.“ Cunningham grunzte. „Näher zu mir.“
    Darryl verzog

Weitere Kostenlose Bücher