Totenrache und zehn weitere Erzählungen
genoss die Mittagssonne, die ihr heiß ins Gesicht schien, während sie sich vorzustellen versuchte, welche Menschen einst in 47 gelebt haben mochten. Sicherlich meist große Familien, die italienisch klingende Namen hatten und deren Männer in den riesigen Schlachthöfen, von denen Nicole gelesen hatte, oder in der Kanalisation arbeiteten.
Nicole genoss die Sekunden, in denen ihre Konzentration die Hochsommergeräusche auf ein gefälliges Säuseln dezimierte und den Schweiß trocknete, der sich während ihres Erkundungsmarsches auf Rücken und Armen angesammelt hatte. Wo immer die Menschen, die Bewohner des Hauses, nun waren, sie waren sicher schweren Herzens fort gegangen. Vielleicht hatten sie sogar der Stadt den Rücken gekehrt. Es war eine entmutigende Vorstellung; wie einfach es doch war, Menschen in die Flucht zu treiben.
Noch bevor sie ihre Augen wieder öffnete, wusste Nicole, dass sie einen Bewunderer hatte. Nur zu deutlich konnte sie seine Blicke spüren. Sie schaute nach links, doch dort entdeckte sie nichts weiter als ein flimmerndes Muster aus Sonnenschein und Schatten, das von den schmutzigen Hausfronten bis zur Straße reichte: es wirkte wie ein achtlos beiseite gelegte Schachbrett. Rechts von ihr stand ein Mann. Die Blicke seiner Augen tanzten – höhnisch oder zuvorkommend – rauf und runter an ihr. Hätte sie sich jemals beobachtet, wenn sie vor einem Haus mit dem Weitergehen innehielt, hätte sie darin ihren eigenen Blick wieder erkannt. Er war voller Misstrauen, aber nie ohne Entzücken.
Der Mann war eher ein Junge, kaum zwanzig Jahre alt, ein zukünftiger Eroberer. Hübsch sah er aus, wie Nicole neidlos anerkannte. Sein Haar war von der Sonne gebleicht, der Mund nun zum lächelnden Halbmond verzogen, sein Blick, in dem etwas Beruhigendes flimmerte, war jetzt eindeutig wohlgesonnen.
Nicole errötete, als sie bemerkte, dass der Junge nicht weniger interessiert ihren Reiz erforschte. Das Sonnenlicht verbarg nichts von der Unruhe, die sie empfand, und es war ihr unangenehm, dass er sicher sehen konnte, wie sehr sie seinetwegen ins Schwitzen geriet. Sie erreichte nur das Gegenteil, als sie sich zur Gelassenheit zwingen wollte.
„Hallo“, sagte er. Seine Hand, die eine Zigarette hielt, grüßte sie mit angedeuteter Gestik ebenfalls.
„Hallo“, erwiderte Nicole. Mochte sie auch ein hübsches Exemplar vor sich haben, die Gegend war menschenverlassen, und falls sich doch jemand in Hörweite befand, so schien es fraglich, ob der dann zur Hilfe eilte.
„Suchen Sie wen?“
„Nein.“
Er schien einer Unterhaltung nicht abgeneigt. „Ich mein' nur; Sie stehen hier herum, als warten Sie auf jemand.“ Ein knappes Kopfnicken Richtung Haus. „Irgendwann werden hier ganz andere Gebäude stehen: Büros, ´n paar Apartments. In dieser Straße wohnen kaum mehr als drei Dutzend Menschen. Die Hartnäckigen, die ihr Heim nicht so einfach im Stich lassen. Oder vielleicht sind es einfach Verlorene.“ Er schaute Nicole für einen Moment an, als trüge sie die Schuld für das Schicksal der Vertriebenen.
„Wissen Sie was?“, meinte er dann leise, nicht mehr forsch; ein jugendlich-verklemmtes Murmeln. Er zog an der Zigarette und schnippte sie dann in den Rinnstein.
„Was soll ich wissen?“ Obwohl Nicole aus seinem Benehmen nicht klug wurde, verspürte sie nun keine Furcht mehr. Im Grunde hatte seine Anwesenheit mehrere erfreuliche Aspekte: Er vertrieb die Einsamkeit, die in dieser Straße wohl so manchen Passanten überwältigte, und Nicole würde Paul am Abend brühwarm erzählen können, dass sie eine nette Bekanntschaft gemacht hatte. Bei dem Gedanken musste sie unwillkürlich lächeln.
„Die Leute“, er deutete mit einer Hand zu einem Ende der Straße, „die noch hier leben, haben keine Chance. Man wird sie unter dem Schutt begraben, wenn es sein muss. Hier in diesem Haus wohnt eine alte Frau, die so gut wie blind ist. Sie hat niemanden mehr, nur ´ne Tochter, die in Europa lebt. Die werden ihr irgendwann den Strom abdrehen und warten.“ Seine Augen schimmerten ein wenig feucht; ob nun vor Wut oder Trauer, konnte Nicole nicht beurteilen. „Sie heißt Beth“, fügte er hinzu, als würde das Schicksal durch diese Bemerkung noch unverzeihlicher.
„Niemand wird das tun“, entgegnete Nicole. „Niemand wird das Haus abreißen, während sie noch in ihrem Bett liegt.“
„Nicht? Sind Sie da wirklich sicher?“
„Natürlich.“
„Ich schätze, ihr größter Wunsch wäre es, hier zu
Weitere Kostenlose Bücher