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Totenrache und zehn weitere Erzählungen

Titel: Totenrache und zehn weitere Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Frank
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hier hatten eine dunkle Vergangenheit, jeder auf seine Weise. Viele, wie Darryl, saßen wegen Dealens. Der schmutzige Punkt bei Fredric hieß, wie er gehört hatte, Brudermord. Er fragte sich, ob der Mörder, wenn er flüsterte und säuselte, seinen kleinen Bruder hinter den flatternden Lidern hatte.
    Immer wieder lugte Darryl hinüber zu Fredric, der an der schattigen Hausfront kauerte und wie selbstverloren vor sich hinstarrte. Sie hatten Mittagspause, und die meisten hielten sich im Innenhof auf und genossen die wärmenden Sonnenstrahlen. Etwas abseits auf einem betonierten Platz spielten ein paar Typen Basketball. Ihr gelegentliches Gelächter klang schrill und spiegelte etwas wider, das Darryl an ein in die Falle gelocktes Tier erinnerte. Ihre aufgestaute Aggressivität, die sie an dem Ball – und manchmal an ihren Gegenspielern – ausließen, war unverkennbar, weshalb ihr Spiel keine Zuschauer fand. Weiter abseits hatten sich besonnenere Häftlinge zusammengefunden und unterhielten sich. Andere waren Einzelgänger, die sich an den Strahlen der Sonne erfreuten oder ihren Gedanken nachhingen.
    Darryls Gedanken kreisten in einer Endlosschleife um das Gefängnis und Fredric und Cunningham. Hatte er jemals etwas gesehen, das schrecklicher war?, überlegte er, und ein Schauder durchzuckte ihn, als er das Bild des vor dem fetten Mann knienden Fredric vor Augen hatte. Die Erinnerung war grauenhaft konkret, es bereitete ihm keine Mühe, den Staub zu riechen, der im dunklen Raum aufgewirbelt war, und die Faserung der Tür zu fühlen, hinter welcher er zuerst gestanden hatte. Und er konnte Cunninghams leicht asthmatisches Keuchen und sein sinnloses Gewinsel hören. Nichts von diesen Eindrücken hatte sich in Fredrics Gesicht widergespiegelt, da war nichts außer Fühllosigkeit gewesen. Darryl hatte verschiedene Male in seinem Leben Leichen gesehen, aber Fredric war die erste, die etwas in ihm rührte.
    Darryl hob den Kopf und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Sonne, die hoch über den Baumwipfeln stand. Er spürte ihre Wärme auf seinem Gesicht und hinter seinen Augen, die sich mit Tränen füllten. Vergeblich redete er sich ein, dass sie der Schutz vor dem gleißenden Licht waren, denn er fühlte in seinem Magen die mit Eis ummantelte Angst, eines Tages könnte sein Gesicht genauso sein, roh und starr wie eine unzulängliche menschliche Skizze.
    Die Gedanken in Darryls Kopf, der immer noch der Sonne zugewandt war, taumelten von einem Abgrund zum anderen, bis sie erlöst wurden vom Schrillen der Glocke, die das Ende der Pause ankündigte. Zusammen mit den anderen betrat Darryl das Haus, dessen Gänge mit Gemurmel erfüllt wurden.

    Es vergingen zwei weitere Tage, die Darryl in ständiger Alarmbereitschaft verbrachte. Hinterher fragte er sich, warum niemand ihn auf seine Anspannung angesprochen hatte. Oft stand auf seiner Stirn kalter Schweiß, er wurde zunehmend aggressiv und verlor bei vielen Dingen, die er tat, die Kontrolle über sich selbst, aber niemand schien das zu bemerken. Oder war sein Zustand völlig normal und in den Augen der Wärter bloß eine Reaktion auf seine Gefangenschaft?
    Aber nun, da Fredric wie zufällig durch die verlassenen Gänge schlenderte und schließlich vor dem Möbelarchiv Halt machte, verschwendete Darryl, der ihm so unauffällig wie möglich folgte, keinen Gedanken mehr an dieses Rätsel. Er sah, dass der Junge die Klinke der Tür ergriff und sie nach langem Zögern schließlich so langsam niederdrückte, als wäre er sich seiner Sache keineswegs sicher. Aber schließlich wand Fredric sich durch den schmalen Spalt und schloss die Tür.
    Darryl folgte ihm nach einigen atemlosen Momenten. Niemand sonst war im Gang, der abseits genug lag, um einigermaßen sicher vor Entdeckungen zu sein. Dennoch spähte Darryl ständig umher, um jedes Risiko auszuschließen. Er wusste nicht, was er sagen würde, wenn man ihn ertappte, aber er hoffte, irgendetwas Kluges würde ihm als Entschuldigung über die Lippen schlüpfen. Vor der Tür verharrte er. Seine Hände waren zu Fäusten verkrampft, und in seinem Gesicht hatte sich eine Grimasse eingegraben, deren Vorhandensein ihn überrascht hätte. Cunningham war dort drinnen, seine Stimme war selbst bei dieser Unterredung, die besser geheim geblieben wäre, zu laut und polternd, als dass die geschlossene Tür sie hätte dämpfen können. Von Fredric hingegen hörte Darryl nichts, wahrscheinlich hockte er verschreckt in der dunkelsten Ecke des

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