Totenreise
befanden.
»Zumindest wissen wir, dass es eine Gruft ist«, tröstete sich Daphne. »Wenn wir Grabstein für Grabstein absuchen müssten, bräuchten wir Monate.«
Beide ließen ihren Blick über das Meer von Kreuzen und Grabmälern schweifen. Zehntausende Pariser lagen hier begraben.
»Nun, dann wissen wir ja zumindest etwas« , erwiderte Dominique lächelnd, »übrigens, hast du dieses seltsame Grab gesehen?«
Er zeigte auf eine Glasskulptur, die zwischen zwei unauffälligen Grabstellen aufragte. Es war ein riesiger Vogel mit roten Augen und goldenem Schnabel, der mit gespreizten Flügeln auf der Grabplatte aus dunklem Granit stand.
»Meinem Freund Jean Jacques, der zu früh fortgeflogen ist«, las Dominique.
»Er muss sehr jung gewesen sein, als er gestorben ist.« Daphne ließ ihren Blick über den Vogel gleiten und nutzte die Gelegenheit, um sich ein wenig auszuruhen. »Das macht mich jedes Mal traurig.«
Dominique nickte.
»Aber das Grab ist echt abgefahren.«
Daphne nickte abwesend und antwortete nicht. Sie betrachtete den Himmel, um abzuschätzen, wie viel Zeit ihnen noch bis zur Dämmerung blieb.
»Wir setzen unsere Suche besser fort«, meinte sie mit besorgtem Gesicht. »Wenn wir nicht aufpassen, könnte uns Varney finden, bevor wir ihn gefunden haben. Das darf nicht passieren.«
»Glaubst du, er weiß bereits, wo sich die Dunkle Pforte befindet?«, fragte Dominique und versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
»Meine Ahnungen sind nur vage«, gestand sie, »ich kann es dir also nicht sagen. Er ist zweifellos nah dran. Hoffentlich kommt er nicht heute Nacht, denn sonst … Wir brauchen einen Tag mehr, nur einen einzigen! Wenn wir den haben, dann können wir morgen seine Gruft auf dem Friedhof Père Lachaise suchen. Nach aller Suche – sie muss dort sein! Und dann schaffen wir ihn uns vom Hals, bevor es wieder dunkel wird. Das ist unsere einzige Chance.«
»Jules hat sich nicht mehr gemeldet«, stellte Dominique fest, »ich denke mal, es ist alles ruhig.«
»Das hoffe ich«, wünschte sich Daphne. »Hör mal, wir trennen uns besser. So werden wir schneller fertig.«
Menschen, die mit Blumen oder nur zum Spazierengehen auf dem Friedhof unterwegs waren, warfen ihnen neugierige Blicke zu.
*** Pascal und Beatrice waren in eine neue Zone des Totenreichs gelangt, den nächsten Kreis der Hölle, und hatten die Sumpflandschaft hinter sich gelassen. Der Boden, auf dem sie sich jetzt bewegten, war steinig und trocken, und das Meer aus Dunkelheit weit entfernt, hinter der Steilküste, wirkte wie dichte Nebelschwaden. Rechts von ihnen, ebenfalls in weiter Ferne, konnten sie vereinzelte Berge erkennen.
»Das sind Vulkane«, bemerkte Beatrice. »Es ist besser, sich nicht in ihrer Nähe aufzuhalten, denn sie können jeden Moment explodieren und die Lavaströme reißen alles mit sich. Alles hier, worauf wir laufen, ist erkaltete Lava.«
Pascal dachte an die Reise zum Golf von Neapel, gemeinsam mit seinen Eltern. Sie hatten ihn zu den Ruinen von Pompeji und Herculaneum mitgenommen, zwei römische Städte, die vor zweitausend Jahren einem Vulkanausbruch zum Opfer gefallen waren. Die Bewohner hatten keine Zeit, sich zu retten, als der Vesuv Feuer spie und sie unter Tonnen von Asche und Stein begrub. Ihre Überreste blieben vollständig erhalten und wurden Jahrhunderte später ausgegraben … Pascal dachte an einen von Asche und Tuff bedeckten, auf seinem Bett kauernden Mann, wo ihn der Ausbruch überrascht hatte. So wollte er nicht enden.
»Ist es noch weit?«
»Dort vorn.«
Beatrice zeigte geradeaus. Vor ihnen endete die Ebene und fiel wie eine gewaltige Rinne in einen atemberaubenden Abgrund. Darüber verlief eine weit geschwungene Hängebrücke, die zu einem mächtigen Felsen führte. Wie ein riesiger Bienenkorb ragte er in den düsteren Himmel: der Kronosfelsen, das Urgestein der Zeit. Sie waren da.
»Es … es ist beeindruckend«, stellte Pascal bewundernd fest.
Das konnte man wohl sagen. Auch Beatrice sah den mythologischen Felsen, der in so vielen Legenden erwähnt wurde, zum ersten Mal. An seiner Rückseite ging der Kronosfelsen in eine Bergkette über, wo verzweigte Geheimgänge auf den nächsten Level der Hölle führten.
»Wenn wir es schaffen, diese geheimen Gänge zu betreten«, bemerkte Beatrice, »können wir unseren Weg so stark abkürzen, dass wir die Chance haben, Michelle und ihre Entführer einzuholen.«
Pascal nickte und blickte zu dem Felsen hinüber. Angesichts
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