Totenreise
nicht erkennen.«
»Sehr gut!«, rief Dominique aus. »Kannst du irgendeinen Namen auf einem der Gräber erkennen?«
Daphne versuchte sich zu konzentrieren.
»Ja …«, flüsterte sie. »Gautier … sämtliche Gräber tragen den Nachnamen Gautier … Es ist alles sehr schmutzig … und es gibt eine Treppe … und eine Falltür … Oh mein Gott, jemand hat einen Satansstern auf den Boden gemalt! Und es gibt Kerzen …« Dominique sah besorgt, wie Daphne unter der großen Anspannung zu zittern begann. Die Szenerie musste schockierend sein. »Ich nähere mich einem der Grabsteine … die Inschrift … gleich!« Daphne hielt den Atem an. »Luc, Luc Gautier! Das ist der wahre Name des Vampirs. Er benutzt sein eigenes Grab, um sich tagsüber zu verstecken.«
Dann drang ein hoher Schrei aus Daphnes Kehle und sie brach zusammen.
Augenblicke später schlug sie die Lider auf und blinzelte, während sie aus der Trance erwachte.
»Was ist passiert?«, fragte Dominique. »Was hast du gesehen?«
»Michelle … ich habe Michelle gesehen«, antwortete sie. »Sie war es, ganz sicher, ich habe sie aus einer anderen Vision erkannt, die ich unlängst hatte. Sie muss bei ihrer Entführung zu dieser Gruft gebracht worden sein, dem letzten Ort, den sie gesehen hat, bevor man sie von dieser Welt fortschaffte. Dort wurde auch die verbotene Zeremonie vollzogen. Die Dreistigkeit dieses Monsters kennt keine Grenzen.« Sie stöhnte. »Es ist ein mächtiges und erfahrenes Wesen.«
***
Marguerite war mit ihrer Arbeit im Büro fertig, wo sie unter anderem Daten geprüft hatte, um Luc Gautiers Verbleib ausfindig zu machen. Sie wühlte in der Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen und ein Blutvergießen in der Zukunft zu verhindern.
Sämtliche amtliche Stellen wiesen den Tod Gautiers im Gefängnis nach, weshalb der leere Sarg in der Familiengruft nur noch mehr Fragen aufwarf. Doch wenn sie es recht überlegte, blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder machte sich jemand einen Spaß daraus, die Polizei auf eine falsche Fährte zu führen, oder es war ein ausgeklügelter Plan, der etwas bezweckte, das Marguerite bislang entgangen war.
Da sie keine Lust hatte, den Abend abzuwarten, bis Varney in der Schule aufkreuzte, beschloss sie, ihm zu Hause einen Besuch abzustatten. Im Wagen suchte sie auf einem Stadtplan die Rue Camille Peletan und machte sich auf den Weg dorthin.
Eine halbe Stunde später hatte sie die Straße erreicht, in der das gesuchte Haus stand. Sie fand einen Parkplatz auf der gegenüberliegenden Seite und bekam einen gehörigen Schreck, als sie beim Überqueren beinahe von einem alten roten Auto gestreift wurde. Mit überhöhter Geschwindigkeit rauschte es an ihr vorüber und grimmig blickte sie ihm kurz nach; dann ging sie hinüber. Hoffentlich war Varney zu Hause.
Die Kommissarin drückte auf die Klingel. Niemand antwortete, also versuchte sie es noch einmal.
»Sparen Sie sich die Mühe«, sagte eine freundliche Stimme hinter ihr. »Er muss verreist sein.«
Marguerite drehte sich um und stand einem älteren Herrn gegenüber, der in das Haus wollte. Er hatte helle Augen und dünnes Haar, und sein runzliges Gesicht wirkte sympathisch.
»Verzeihung?«
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich, »ich habe gesehen, bei wem Sie geklingelt haben, ich bin der Nachbar. Mein Name ist Adam.« Sie reichten sich die Hand, während Marguerite sich ebenfalls vorstellte. »Sie suchen Varney, nicht wahr?«
»Ja, ich muss mit ihm sprechen. Es ist dringend.«
»Ich fürchte, das geht nicht«, bemerkte der Mann. »Er muss verreist sein, wir sind uns schon seit Tagen nicht mehr begegnet. Ich wohne auf demselben Stockwerk.«
»Sind Sie sicher?«, hakte Marguerite nach. »Schon seit Tagen nicht mehr?«
»Aber ja. Ich höre auch keine Geräusche, dabei sind die Wände in diesem Haus wie Papier …«
Die Kommissarin fluchte stumm. Vielleicht wohnte Varney woanders. Er hatte in der Schule ja nicht gefehlt, also konnte er nicht verreist sein.
»Ich weiß schon, was ich tun werde«, sagte sie in der Erwartung, dass der Nachbar seine Schlüssel zückte. »Ich werde ihm eine Nachricht an die Tür stecken. Wenn Sie so nett wären und mir öffnen würden.«
Adam, der alte Herr, lächelte.
»Selbstverständlich. Alfred ist ein netter Kerl, wissen Sie? Schade, dass er seine Arbeit verloren hat. Hoffentlich findet er bald etwas anderes, denn unser Vermieter ist nicht besonders kulant …«
Die Kommissarin merkte sich diese Information.
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