Totenreise
Alfred Varney hatte das Vorstellungsgespräch beim Schuldirektor vorigen Montag gehabt und die Stelle sofort bekommen. Wenn er also einen guten Draht zu seinem Nachbarn hatte, warum hatte er ihm dann noch nicht erzählt, dass er wieder eine Arbeit hatte? Es sah ganz danach aus, also wäre er die ganze Woche nicht in seiner Wohnung gewesen.
Adam ließ ihr den Vortritt, und Marguerite betrat den Hausflur. Dort blieb sie abrupt stehen – denn plötzlich fiel ihr siedend heiß etwas ein: das rote Auto, das sie vor ein paar Minuten beinahe überfahren hatte. Es war ein altes, ein sehr altes Auto gewesen. Mit einem defekten Rücklicht. Rot, alt und mit einem kaputten Rücklicht. Das war völlig unmöglich. Unter Millionen von Parisern.
Sie presste die Lippen zusammen, um einen Schwall von Flüchen zurückzuhalten. Eine Schläfenader pochte und ihre Augen glitzerten, als sie sich umdrehte und auf die gegenüberliegende Straßenseite starrte.
Unglaublich! Diese schrille alte Hexe! Es musste das Auto von Daphne gewesen sein! Wie sollte sie es nicht erkennen, wo sie es am Abend zuvor über eine Stunde verfolgt hatte? War diese Hellseherin auch diesmal wieder in Begleitung irgendeines Jungen? Und was hatte sie in dieser Gegend zu suchen?
Marguerites Gesicht nahm eine rote Färbung an: Ja, sie waren bereits in Varneys Wohnung gewesen. Daphne und einer ihrer Jungs waren ihr zuvorgekommen.
Wenn sie nur wüsste, was die beiden dort gewollt hatten. Sie runzelte die Stirn. Warum liefen sie sich ständig über den Weg? Das war unbegreiflich, es besaß keinerlei Logik. Doch auf einmal fiel ihr noch etwas ein: Marcel Laville, ihr Kollege, er war auch immer an den Orten gewesen, nur diesmal nicht. Oder vielleicht doch? Wer konnte garantieren, dass er nicht ebenfalls schon seinen Fuß in dies Haus gesetzt hatte?
War sie diejenige, die immer als Letzte kam? Lag es etwa daran, dass ihre Skepsis sie gegenüber bestimmten Themen blind machte? Sie wusste keine Antwort darauf.
»Verzeihung.« Marguerite wandte sich an Adam, der sie neugierig ansah. »Mir ist gerade wieder etwas Wichtiges eingefallen.«
»Das passiert.« Er lächelte verschmitzt und öffnete höflich die Eingangstür für sie.
Auf dem Weg zum Fahrstuhl registrierte sie den überfüllten Briefkasten Varneys. Tatsächlich war er seit Tagen nicht in seiner Wohnung gewesen.
Sie merkte gleich, dass sich an dem Schloss jemand zu schaffen gemacht hatte, also stieß sie die Tür auf und trat ein, allerdings nicht, ohne vorher ihre Pistole zu zücken.
Nachdem sie festgestellt hatte, dass niemand in der Wohnung war, schaute sie in sämtlichen Ecken, um sich eine Vorstellung von der Persönlichkeit des Lehrers zu machen.
Das Telefon im Wohnzimmer überraschte sie. Hatte es nicht geheißen, er habe kein Telefon? Marguerite trat näher und drückte die Taste des Anrufbeantworters, um eventuell Nachrichten abzuhören. Es waren sechs, und keine davon irgendwie verdächtig. Die letzte war vom vergangenen Samstag, dem Tag nach der Ermordung Delaveaus und der beiden Jugendlichen. Dem Tag nach Halloween.
Marguerite sah sich argwöhnisch um. Sie hob ein gerahmtes Foto von Varney hoch und betrachtete es eingehend. Schien ein netter Kerl zu sein. Obwohl die harmlosesten Zeitgenossen die schlimmsten Psychopathen und Verbrecher sein konnten.
Mit diesem Gedanken im Kopf fand Marguerite, dass das Gespräch mit Varney nicht warten konnte. Sie würde zur Schule fahren und vorgeben, dass man in seine Wohnung eingebrochen sei, damit er keinen Verdacht schöpfte.
Die Kommissarin entdeckte einen Laptop in dem kleineren Zimmer. Nein, die Hexe war nicht hier gewesen, um zu stehlen.
38
»DIESER LUC GAUTIER muss schon vor Jahren gestorben sein«, dachte Daphne laut, »und als Vampir in der Hölle gehaust haben. Bis die Dunkle Pforte sich wieder geöffnet und ein unglücklicher Zufall ihn in diese Welt zurückgebracht hat. Hier hat er dann Varney getötet, um sein Äußeres anzunehmen, und seither versteckt er sich tagsüber in der Gruft seiner Familie, der Gautiers.«
So weit, so gut. Doch nun begann die Suche, und die war aufwendig und ermüdend. Es gab kein Grabregister auf den Friedhöfen von Paris, oder zumindest war es ihnen nicht zugänglich. Deshalb war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als sich auf den Weg zu machen. Zuerst zu dem Friedhof von Montmartre, wo sie keine Gruft mit diesem Namen gefunden hatten, danach war Montparnasse an der Reihe, wo sie sich im Augenblick
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