Totenreise
ihre Blicke auf die Truhe. War der Übertritt Pascals erfolgt, würde keiner von ihnen, die hier warteten, noch derselbe sein …
***
Marcel, der Kittel, Haube und Mundschutz trug und dessen Augen von einer riesigen Plastikbrille bedeckt waren, stand am Obduktionstisch, seine behandschuhten Hände führten die Pinzette mit erfahrenem Geschick.
Die Tür ging auf und Marguerite mit ihrem dicken Verband im Gesicht kam herein.
»Wie schön, dass wir weiterarbeiten können, stimmt’s?«, sagte sie. »Wenn man uns diesmal nicht suspendiert hat …«
»Marguerite, du kannst nicht einfach ohne die vorgeschriebene Kleidung hier hereinplatzen«, wies sie der Gerichtsmediziner zurecht. »Das weißt du genau.«
»Wie ich sehe, hält man sich hier genauestens an die Vorschriften«, bemerkte sie lächelnd. »Aber wir müssen uns über die Sache auf dem Friedhof unterhalten, du kannst mir nicht länger aus dem Weg gehen.«
Marcel legte die Pinzette auf ein Tablett; er räusperte sich. »Einverstanden«, sagte er dann. »Warte draußen auf mich, ich bin gleich da.«
Er hielt Wort, und kurz darauf saßen sie in seinem Büro.
»Du bist mit einem Revolver zu unserem Treffpunkt gekommen, der mit Silberpatronen geladen war«, kam Marguerite direkt zur Sache.
»Ich hatte eine Ahnung, das ist alles.«
»Das ist natürlich nicht alles. Ahnung wovon?«
»Könntest du bitte leiser sprechen?«
Marcel Laville begann, mit einem Kugelschreiber zu spielen. Es war an der Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen, zumindest einiges von dem, was ihn bewegte preiszugeben. Einige Informationen … ohne sich allzu sehr zu blamieren.
»Seit Tagen stelle ich mir die Frage, ob wir es nicht mit etwas Übernatürlichem zu tun haben«, begann er zögerlich.
Marguerite zwinkerte nicht einmal. Sie hatte selbst schon daran gedacht.
»Kannst du ein bisschen genauer werden?«
»Die Art und Weise, wie die Opfer zu Tode gekommen sind, die Spur zum alten Gautier, nicht zu wissen, wie die Körper ihr Blut verloren haben … Muss ich noch etwas hinzufügen?«
»Ja, ich will, dass du es aussprichst, Marcel. Benenne diese ›übernatürliche Bedrohung‹.«
»Du bist wirklich gnadenlos, Marguerite.« Der Gerichtsmediziner blickte sie an. »Ich glaube, dass wir es mit einem … Vampir zu tun haben.«
Sie schwieg.
»Das ist absurd«, bemerkte sie schließlich. »Vampire sind eine Erfindung. Und du bist ein Wissenschaftler.«
»Wir erklärst du dir dann, dass deine Schüsse den Angreifer nicht verletzt haben?«
Marguerite kaute auf der Unterlippe, während sie sich eine Antwort überlegte.
»Das wissen wir nicht. Vielleicht hat er einfach nur so lange durchgehalten, bis deine noch hinzukamen. Manche Menschen sind ziemlich zäh …«
»Interessante Hypothese«, stellte er ironisch fest. »Nur dass die Person, die dich angegriffen hat, alles andere als kräftig war. Würdest du mir eine andere Frage beantworten?«
»Schieß los, Doktor Abergläubisch.«
»Insgesamt muss der Kerl fünf Kugeln abbekommen haben.«
»Davon gehe ich aus.«
»Wir haben in der Umgebung keine einzige Blutspur gefunden. Deshalb haben wir ihn auch nicht identifizieren können. Was denkst du? Ein menschliches Wesen würde bei solchen Verletzungen Blut verlieren, oder nicht?«
»Vielleicht war er dick angezogen und das Blut wurde von seiner Kleidung aufgesogen.«
Der Gerichtsmediziner lächelte.
»Überzeugen dich deine Argumente mehr als meine, Marguerite?«
»Wenigstens sind meine physisch möglich.«
Marcel war bereit, seinen Trumpf auszuspielen: »Um was wettest du mit mir, dass wir die fünf Kugeln finden, wenn wir das Grab von Henri Delaveau öffnen?«
Die Kommissarin riss die Augen auf. »Was redest du da für einen Unsinn? Nach dem Schlamassel, in den wir uns wegen der Spur von Gautier geritten haben, willst du das Gleiche noch mal machen? Nein danke. Ich möchte meinen Job lieber behalten. Dafür werden wir niemals eine Genehmigung bekommen, und jetzt erst recht nicht. Außerdem«, fügte sie sarkastisch hinzu, »würde das bedeuten, dass tatsächlich er die Schüsse abbekommen hat. Und ich dachte, Delaveau wäre seit Tagen tot! Wie wenig ich doch bei der Sache bin …« Ihr Ausdruck verdüsterte sich. »Komm schon, streich den Lehrer von deiner Liste der Angreifer und mach dich ernsthaft an die Arbeit. Benutze deinen Verstand, der dich doch sonst nicht im Stich lässt. Zumindest bisher, denn langsam machst du mir Angst …« Marguerite stand auf und ging zur
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