Totenreise
Tür.
»Hör zu«, gestand sie im Gehen, »ich schätze dich wirklich sehr, aber deine Theorien kann ich nicht akzeptieren. Ich denke nicht daran, meine Pistole gegen einen spitzen Holzpflock einzutauschen oder mir Knoblauch um den Hals zu hängen, kommt nicht infrage«, sie holte tief Luft, bevor sie fortfuhr. »Ich bestreite ja gar nicht, dass wir ein paar merkwürdige Hinweise haben. Doch ich bin überzeugt davon, dass es eine rationale Erklärung für alles gibt. Wir haben sie nur noch nicht gefunden. Ich muss allerdings wissen, ob ich weiterhin auf dich zählen kann und ob du in diesem Fall professionell wie sonst auch vorgehen willst.«
Marcel seufzte. »Natürlich bin ich dabei, Marguerite. Wir sind beide mit der Sache betraut, auch wenn wir unterschiedlich ermitteln.«
»Das mit dem Ermitteln kannst du mir überlassen«, erklärte sie, »kümmre du dich um deinen Kram; Feldforschung, um danach im Labor zu schuften. Deine Sache ist die Analyse.«
Der Gerichtsmediziner lachte laut auf, doch er sagte nichts.
»Ist dir klar, dass man dir den Fall entziehen und dich in die Psychiatrie stecken wird, wenn ich deine Theorie herumerzähle?«, warnte ihn Marguerite.
»Genau deshalb wirst du es nicht tun. Du brauchst mich. Ich bin noch immer der Beste auf meinem Gebiet, wie du weißt.«
»Sieh zu, dass ich keine Zweifel kriege, Marcel, du alter Fuchs. Aber ich werde dich zwingen, endlich Urlaub zu machen, wenn wir damit fertig sind.«
Marguerite wandte sich zur Tür, drehte sich aber ein letztes Mal um: »Dann war also Delaveau mein Angreifer? Und du denkst, meine Projektile sind in seinem Grab … Wie hast du ihn eigentlich identifiziert, wo er doch keinerlei Spuren hinterlassen hat?«
»Als er dich angegriffen hat, habe ich ihn erkannt. Ich habe bei ihm die Obduktion durchgeführt, deshalb kenne ich sämtliche Gegenstände, mit denen er begraben wurde. Ich habe seine Uhr gesehen, als er dich geschlagen hat.«
»Begraben? Aber werden die Leichen der Opfer nicht im Kühlraum aufbewahrt?«
»Nur bis zur Obduktion, wie du weißt. Hier, im Institut, sind nur noch die Körper von Melanie und Raoul«, teilte ihr der Gerichtsmediziner mit. »Morgen kommt der Bestattungsdienst, um sie abzuholen. Die Begräbnisse sind am Nachmittag. Doch das Begräbnis von Delaveau hat bereits stattgefunden. Zufällig ist sein Grab auf dem Père Lachaise. Noch eine Frage?«
Marguerite lächelte. »Hör zu«, wehrte sie hochmütig ab, »bestimmt ist diese Uhr kein Einzelstück, aber eigentlich ist es auch völlig egal, aus dem einfachen Grund, weil es nicht sein kann. Vampire gibt es nicht, und ich werde es dir beweisen.«
»Betreibe heute zumindest die Nachforschungen allein«, bat Marcel. »Bitte. Tu es mir zuliebe …«
»Marcel, ich werde nicht ruhen, bis ich den Mörder gefunden habe, du hast den Hauptkommissar doch gehört. Und das bedeutet, rund um die Uhr zu arbeiten. Übrigens suche ich auch den Leichnam von Gautier. Wenn er nicht in seinem Grab ist, muss er irgendwo anders sein. Er ist im Gefängnis gestorben, also dürfte es nicht so schwer sein, ihn zu finden. Falls dir dazu etwas einfallen sollte, etwas Brauchbares, meine ich, sag Bescheid.«
Marguerite verließ mit energischem Schritt das Büro. Marcel saß nachdenklich da und dachte an die Körper der beiden jungen Leute, die, nur mit Laken bedeckt, noch immer im Kühlraum waren.
Würden sich Melanie und Raoul in Vampire verwandeln, wie es mit dem Lehrer geschehen war? Sollte er etwas tun, um es zu verhindern? Er wollte ihre jungen Körper nicht noch mehr verstümmeln.
Marcel war bedrückt. Und er machte sich große Sorgen um seine Kollegin, die nicht wusste, worauf sie sich da einließ. Das Geheimnis, das er hütete, lastete immer schwerer auf ihm.
25
PASCAL GING DEN Leuchtpfad entlang, der zur Friedhofsmauer von Montparnasse führte, und hielt sich dabei vorsichtig in der Mitte. Hin und wieder hörte er seltsame Geräusche, und einmal sah er in der Ferne eine Gestalt auf einer der zahlreichen Abzweigungen. Er fragte sich, ob es eine der umherirrenden Seelen war, jemand, der noch nicht begraben war und seine Wartezeit damit verbrachte, große Strecken zurückzulegen, ohne auf einem der Pariser Friedhöfe endgültig zur Ruhe kommen zu können. Er würde Lafayette fragen.
Pascal war neugierig darauf, auch die anderen Pfade entlangzugehen. Bisher kannte er nur den zu den Gräbern von Montparnasse. Wohin führten wohl die anderen vielen Lichtschlangen, die sich in
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