Totenreise
und Pascal hätte schwören können, ein kurzes Stirnrunzeln bei ihr gesehen zu haben. Störte sie die Vorstellung, ihn mit anderen Mädchen flirten zu sehen? Das machte ihm Hoffnung.
»Okay, okay.« Es konnte nicht schaden, sie ein bisschen eifersüchtig zu machen. »Ich tu, was ich kann.«
Michelle hatte sich halb abgewendet, sagte jedoch nichts; sie blieb stehen, um auf den Fluss zu schauen. Auch Pascal stoppte und hielt Dominiques Rollstuhl an. Ein paar Meter weiter unten, auf der Promenade, liefen die Leute am Wasser entlang, die Mantelkragen hochgeschlagen, die Hände in den Taschen.
»Gibt es eigentlich satanische Riten?«, wechselte Dominique das Thema. »In einer solchen Nacht …«
»Jetzt reicht’s aber«, erwiderte Michelle und gab ihm einen sanften Klaps auf die Wange. »Wir Gothic-Fans sind ganz normale Leute! Du änderst dich wohl nie.«
Aber eigentlich wollte Michelle gar nicht, dass sich Dominique änderte. Auch wenn er gern freche Bemerkungen machte, wusste sie genau, dass all das nur Show war, eine Fassade, um mit seiner Behinderung fertigzuwerden. Ein Versuch, den anderen Jungs ähnlich zu sein. Der wahre Dominique hatte unter der Schale, die er trotzig vor sich hertrug, einen sensiblen Kern, von dem kaum jemand etwas ahnte. Eine Sensibilität, die er außerdem nie zugegeben hätte. Doch Michelle kannte auch diesen Dominique … Langsam brach die Dunkelheit über der Stadt herein. Und die drei Freunde trennten sich. Dominique und Pascal mussten mit ihren Eltern besprechen, wie lange sie wegbleiben durften, eine Frage, die Michelle dank der großzügigen Bestimmungen des Internats erspart blieb.
3
JULES MARCEAUX GING mit Michelle in dieselbe Klasse, die B der Premier, am Pariser Marie-Curie-Gymnasium. Er war groß und schlank, und sein dichtes blondes Haar fiel ihm in das blasse Gesicht, verdeckte halb die vorstehenden Wangenknochen. Gothic-Fan, der er war, begannen seine tief liegenden Augen immer dann zu leuchten, wenn das Gespräch auf Gruselthemen kam.
Jules hatte künstlerische Neigungen und fertigte für sich lebensgroße Monster aus Gummi. Mit seiner kompletten Horrorkollektion von mehr als zwanzig Figuren war er ein echter Freak. Er lebte in der Rue Chaveau-Lagarde 2, in der Nähe der Madeleine, einer Kirche die man vom Fenster des Salons aus sehen konnte. Das gesamte Gebäude, das vom Ende des 19. Jahrhunderts stammte, gehörte seit Generationen seiner Familie. Neben ein paar Büros und Läden gab es nur eine einzige private Mieterin, der Rest des Hauses wurde von dem Ehepaar Marceaux und dem einzigen Sohn, Jules, bewohnt. Die Marceaux, eine verarmte Großbürgerfamilie, besaßen nicht genügend Geld, um das alte Gebäude zu sanieren; es machte einen etwas heruntergekommenen Eindruck – was aber Jules und seinen Goth-Freunden absolut gefiel.
Pascal, auf dem Weg zu der ominösen Party, wurde unwillkürlich an die Wahrsagerin erinnert, als ihm ein paar verkleidete Gestalten über den Weg liefen, die offenbar wie er zu einer Halloweenfeier gingen. Er verdrängte den Gedanken an sie jedoch wieder, wollte sich nicht auch noch heute Abend und diese Nacht mit dieser Daphne und ihrer Prophezeiung beschäftigen … Er war ohne Kostüm unterwegs, angeblich, weil er nichts Passendes gefunden hatte.
Es musste eben auch ohne gehen; warum sollte er sich nur mit irgendeinem albernen Umhang oder Hut oder einer gespenstischen Maske amüsieren können. Natürlich war es das Erste, das er gefragt wurde, als er in der Nähe von Jules’ Haus auf seine Freunde traf.
»Und du, warum hast du dich nicht verkleidet?« Michelle sah ihn von oben bis unten an. »Ich habe euch doch gesagt, dass es Bedingung ist.«
»Ich weiß ja«, brummelte er. »Aber ich hatte nichts Brauchbares … Das war nicht vorgesehen!«
»So viel braucht es ja auch gar nicht.« Dominique zeigte auf sich: ein paar alte Klamotten, die mit roter Farbe beschmiert waren, und ein Plastikdolch an der Seite. »Du musst ein bisschen Fantasie entwickeln, Kumpel.«
Pascal blickte zu Boden und kratzte sich am Hals, eine seiner typischen Reaktionen.
»Die hab ich nicht, wie ihr wisst. Und wenn ich mich verkleide«, er hob den Kopf, »dann als Ungeduldiger.«
Michelle bemerkte den ironischen Unterton, aber sie reagierte nicht auf die Anspielung. Sie ging als Vampirin verkleidet, allerdings trug sie das falsche Gebiss mit den langen Eckzähnen jetzt noch nicht, weil es sie am Sprechen hinderte.
»Mach dir keine Sorgen, Pascal«, sie
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