Totenruhe - Bleikammer - Phantom
viele Zufälle soll es denn noch geben? Die Sache ist voller Übereinstimmungen.“
„Zum Beispiel?“
„Der Vorname des Doktors ist Roderich. Das Phantom heißt Erik. Das ist der gleiche Wortstamm.“
Jaqueline verdrehte die Augen. „Das Mädchen spinnt vollkommen“, lachte sie.
Der Rektor Werner Hotten war ebenfalls rot geworden. Offensichtlich schämte er sich für die Show, die Angelika hier abzog. Er fuhr sich unablässig über die Glatze, und das machte ein seltsames, schabendes Geräusch. „Ich denke, wir sollten sachlich bleiben“, sagte er, und seine Stimme war fast ein Flüstern. „Der Doktor ist ein Ehrenmann.“
„Das war das Phantom der Oper auch“, fuhr Angelika dazwischen.
„Der Doktor hilft uns mit seinen Analysen dabei, den Menschen zu finden, der das Getränk manipuliert hat.“
„Zumindest tut er so“, schaltete sich Artur ein. Seine natürliche Skepsis schien durchgekommen zu sein. Überhaupt begann sich die Stimmung allmählich zu verändern. Werner versuchte weiterhin, die Wellen zu glätten, und Jaqueline war bereit, jedes Argument Angelikas mit ihrem messerscharfen Verstand zu widerlegen, doch den Mienen der anderen nach zu urteilen, fanden einige der Studenten die Theorie von Dr. Konzelmann als Täter recht plausibel. Viele von ihnen mochten den Doktor, oder vielmehr empfanden sie eine Art Mitleid für ihn. Aber es gab wohl keinen, der sich noch nie gefragt hatte, welche Gedanken wirklich durch seinen Kopf spukten, wenn er im Unterricht immer wieder den Faden verlor, mitten im Satz abbrach und ins Leere starrte, geduckt wie ein Hund, der einen Tritt erwartete. War es nicht offensichtlich, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte? Das Phantom der Oper hin oder her – war es nicht tatsächlich vorstellbar, dass der Doktor sich in Sanjay verguckt hatte und Paul aus dem Haus zu ekeln versuchte?
Musste man wirklich ein schlechtes Gewissen haben, wenn man dem Sonderling eine solche Tat unterstellte? Schließlich war Paul nicht gestorben, und sicher hatte der Doktor das auch nicht gewollt. Einem Mann von seiner Kompetenz war zuzutrauen, dass er Wirkung und Dosierung seiner Mittel genau kannte.
„Zuerst Lorenz, das Schlossgespenst, und jetzt Roderich, das Phantom“, sagte Harald. „Dieser Schule bleibt auch nichts erspart. Hoffentlich fängt er nicht an zu singen …“
Niemand lachte.
Sanjay ergriff das Wort. „Ich glaube nicht, dass es Dr. Konzelmann war“, verkündete sie. „Diese Theorie hat einen entscheidenden Schwachpunkt. Unsere beiden Getränke standen auf demselben Tisch, vielleicht einen Meter voneinander entfernt. Wer immer das Gift in Pauls Glas gegeben hat, er muss von vornherein die Möglichkeit in Betracht gezogen haben, dass wir unsere Gläser verwechseln würden.“
Angelika kniff die Lippen zusammen, als Sanjay weitersprach: „Würde das Phantom der Oper in Kauf nehmen, dass die Frau, die es zu lieben glaubt, Schaden nimmt?“
Darauf wusste niemand eine Antwort.
6
„Du hast dich nicht an der Diskussion beteiligt“, sagte Artur später zu Margarete Maus, der Dozentin für Magie und Hexerei. Es war nach elf Uhr vormittags, die Studenten und Dozenten hatten sich in kleine Grüppchen aufgeteilt, die fieberhaft die Möglichkeiten durchdiskutierten. Artur hatte kein gutes Gefühl, wenn er seine Kommilitonen beobachtete. Noch gingen sie behutsam miteinander um, aber er spürte, dass sie nur einen kleinen Schritt davon entfernt waren, einander zu zerfleischen. Irgendjemand aus ihrer Mitte musste es getan haben, und wenn es nicht Dr. Konzelmann war, dann war es eben ein anderer. Das war der Stoff, aus dem Misstrauen gemacht war, und auf die Bewohner von Falkengrund konnte sich das fatal auswirken. Die Harmonie, die hier manchmal zu herrschen schien, war ohnehin nur eine oberflächliche.
Artur hatte sich nicht zu einer der Gruppen gesellt, sondern den Weg nach oben angetreten. Er war so aufgewühlt, dass er nicht einmal mit Melanie reden wollte. Es gab nur eine Person, zu der er in diesem Moment etwas zu sagen hatte, und das war Margarete. Die verhielt sich wie er und floh aus dem wimmelnden Erdgeschoss in die Einsamkeit des oberen Stockwerks.
„Ich muss nachdenken“, erwiderte sie, als Artur sie am oberen Ende der Treppe einholte und ansprach. „Dazu brauche ich etwas Ruhe.“
„Und ich habe schon nachgedacht“, meinte Artur.
Die Dozentin blieb stehen und sah ihn an. Sie standen im Flur, einige Schritte von Margaretes Zimmer entfernt. Wann immer
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