Totenruhe - Bleikammer - Phantom
Aber worauf?
Die Gunkel griff nach ihren Gläsern und schnupperte daran. Sanjay hatte ihres ausgetrunken, in Pauls Glas befand sich noch ein kleiner Rest.
„Das riecht nicht nach Campari Orange“, behauptete die Dozentin.
Sanjay war drauf und dran, sie zu fragen, woher ausgerechnet sie wissen wollte, wie Campari Orange roch, doch sie unterließ es und schwieg.
„Es könnte ein Gift sein“, hörte sie Traude Gunkels nächste Worte.
Ihr wurde schwindelig. Zuerst wollte sie es nicht glauben, dann verwandelte sich die Sorge um Paul in eine Sorge um sich selbst, denn sie hatte ja dasselbe getrunken.
„ Ihr Glas riecht nicht danach, Fräulein Munda“, sagte die Dozentin, doch das konnte Sanjay nicht beruhigen. Sie schnupperte selbst an den Gläsern und musste der Gunkel Recht geben. Pauls Getränk roch merkwürdig, nicht nach Bittermandel, aber nach Schimmel oder irgendeiner muffigen Chemikalie. Ihr fiel ein, dass Paul eine Bemerkung über den schlechten Geschmack gemacht und sich geschüttelt hatte, während ihr selbst nichts aufgefallen war.
Jemand hatte etwas in seinen Drink gegeben! Es musste geschehen sein, während sie im kleinen Seminarraum miteinander beschäftigt gewesen waren. Aber das – das machte keinen Sinn. Es musste jemand aus dem Schloss getan haben, einer von den Dozenten oder Schülern. Unvorstellbar. Außerdem: Wie sollte er hier Feinde haben, wo ihn an diesem Ort doch niemand kannte?
Oder war das Gift gar nicht für ihn bestimmt gewesen?
Sollte es in ihre, Sanjays Kehle fließen?
„Ich wecke besser den Rektor“, sagte Traude Gunkel.
Sanjay nickte und fügte mit bebender Stimme hinzu: „Und rufen Sie den Notarzt, bitte!“
Pauls Hand, die in der ihren lag, verkrampfte sich, er beugte sich zur Seite und übergab sich hustend. Als es vorüber war, sah er sie aus verschleierten Augen an und krächzte: „Ich glaube, es … geht schon wieder. Der Orangensaft war wohl … verdorben …“
Werner Hotten kam in einem blauweiß gestreiften Schlafanzug herbeigeeilt, der ihn wie einen Sträfling wirken ließ. Seine Glatze glänzte, als hätte er sie eben poliert. Unter normalen Umständen wäre es ein Bild für Götter gewesen, doch niemandem war jetzt nach Lachen zumute.
Sie sprachen ein paar Worte mit Paul. Es ging ihm schon besser, er entschuldigte sich für die Sauerei, die er angerichtet hatte. Allmählich verschwand die Totenblässe aus seinem Gesicht und wurde von einer verschämten Röte abgelöst. Noch immer war er zittrig und konnte sich nur mühsam vom Stuhl erheben.
„Ich werde Dr. Steinbach rufen“, sagte Werner. Steinbach war der Arzt ihres Vertrauens. Er wusste, dass auf Schloss Falkengrund manchmal Dinge geschahen, die besser nicht an die Öffentlichkeit kamen, und er nahm seine ärztliche Schweigepflicht sehr ernst, auch gegenüber den Behörden.
„Und … die Polizei?“, wollte Sanjay wissen. „Ich meine – er wurde vermutlich vergiftet, nicht wahr?“
Werner und Traude Gunkel sahen sich an, was selten genug vorkam. „Tja, dann muss es wohl sein“, meinte Werner. „Ich muss nur zugeben, dass ich es gerne vermieden hätte. Damals, als dieser Fachinger bei uns herumschnüffelte, wäre es beinahe zu einer Katastrophe gekommen. Wenn Sir Darren nicht eine Idee gehabt hätte, wäre Lorenz von Adlerbrunn vielleicht freigekommen, und wir würden jetzt die Radieschen von unten betrachten …“
„Ich denke auch, wir sollten noch warten“, gab die Gunkel ihre Ansicht preis. Ausnahmsweise war sie einmal mit dem Rektor einer Meinung. „Wir sind schon mit anderen Situationen fertiggeworden. Polizisten auf Falkengrund werfen vermutlich mehr Probleme auf, als sie lösen. Ein weiterer Vorfall dieser Art lässt sich leicht vermeiden, wenn wir vorsichtig sind.“
Sanjay widersprach nicht. Sie verstand die Argumente. Andererseits sagte sie sich, dass die Polizei vielleicht Fingerabdrücke hätte nehmen können. Das Getränk und das Erbrochene wäre analysiert worden, und sie hätten den Namen des Giftes erfahren – und möglicherweise sogar den des Menschen, der es ins Glas geschüttet hatte …
Werner ging telefonieren, und währenddessen standen sie stumm da. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Der Rektor kehrte zurück und verkündete, dass Dr. Steinbach verordnet hatte, den Vergifteten hinzulegen, ihm reichlich Flüssigkeit zu trinken zu geben und sicherheitshalber in seiner Nähe zu bleiben. Der Arzt würde in etwa einer Stunde hier sein und sich den Patienten
Weitere Kostenlose Bücher