Totenruhe - Bleikammer - Phantom
es zwar, sich einmal seinem Griff zu entwinden, doch die unsichtbaren Hände griffen sofort wieder nach ihm. Diesmal erwischten sie seine Kehle!
Artur zwang sich, Ruhe zu bewahren. Anstatt den Griff zu lösen zu versuchen, was ihm ohnehin nicht gelungen wäre, schob er seine Rechte in die Hosentasche und zog den Bernstein hervor. Die Todeskälte durchdrang seine Kehle, kroch hinauf zu seinem Kinn, breitete sich über sein Gesicht aus. Auch in der Brust spürte er den eisigen Hauch. Sanjay, die weibliche Sanjay, starrte ihn an. Auf ihrem Gesicht malte sich Entsetzen und Erleichterung gleichzeitig ab. Sie unternahm nichts, um in den Kampf einzugreifen. Wahrscheinlich begriff sie nicht genau, was geschah, und sie hätte auch nichts tun können.
Röchelnd taumelte Artur zurück, bis er die nackte Wand im Rücken spürte, das einzige Stück, das nicht von Regalen bedeckt war. Er presste den Bernstein gegen den kalten Griff, und nichts geschah. Sein Schutzgeist blieb eingesperrt.
Margaretes Schuld. Er würde also tatsächlich sterben, wie er ihr gedroht hatte, den Stein in der Hand. Nur schade, dass er nicht mehr mit ansehen konnte, wie sie sich danach quälte. In diesem Moment hasste er sie wirklich. Jetzt, wo sein Leben sich dem Ende entgegenneigte, sah er sie als die wahre Schuldige für alles, was geschah. Seit dem Tag, an dem sie ihm den Schutz weggenommen hatte, lief alles nur noch schief.
Mühsam presste er noch winzige Mengen Sauerstoff durch den erbarmungslosen Griff hindurch, doch es wurde immer weniger, reichte nicht mehr aus. Schwärze tanzte in Schlieren vor seinen Augen, seine Glieder wurden schwer. Die Wand in seinem Rücken spürte er kaum mehr, nur noch die Kältequelle an seiner Kehle nahm er wahr. Er versuchte, mit den Fingern unter die tödlichen Hände zu kommen – aussichtslos!
Eines verstand er nicht. Wenn Margarete an allem die Schuld trug, wenn sie es war, die sein Schicksal besiegelt hatte, warum hatte sein Schutzengel sie sich dann nicht vorgenommen, als er damals auf Falkengrund eintraf? Warum hatte er sie verschont, sie als ungefährlich eingestuft?
In den Augenwinkeln sah er eine Bewegung. Jemand kam aus dem Vorraum herein. Es war eine Frau. Sie war nackt, und sie vollführte einen seltsamen Tanz. Er nahm sie durch einen Schleier aus Tränen wahr, als sie unmittelbar vor ihm vorüber tanzte. Er kannte diese Bewegungen. Es waren dieselben, die sie seinerzeit benutzt hatte, als sie den Schutzgeist aus seinem Inneren gezogen und in den Bernstein gebannt hatte.
Bedeutete das …?
Aber sie kam spät. Die Kälte schwappte über ihn wie eine Welle, zog ihn in einem Strudel hinab auf den Grund eines finsteren, eisigen Ozeans.
Margarete begann zu singen. Tief, hypnotisch. Ihr Gesicht war ganz nahe vor dem seinen. Es glänzte vor Schweiß. Ihr ganzer Körper glänzte. Die Beleuchtung weckte Reflexe, Blitze, als würde ein Gewitter über ihren Leib hinwegziehen.
„Zu … spät“, krächzte er.
Sie griff nach seiner Hand, derjenigen, die den Bernstein hielt. Etwas floss aus ihr durch seine Finger hindurch in den Stein. Es war weder kalt, noch warm. Es war ein seltsamer Wirbel aus Kraft, eine Art von Energie, die Molekülstrukturen erschütterte und selbst einen Diamanten hätte zerbrechen können.
Der Bernstein zerbrach nicht. Dazu war er zu weich. Aber er bewegte sich in Arturs Hand wie etwas Lebendiges. Weitete seine Poren. Artur öffnete seine Hand und war sicher, dass es das letzte sein würde, was er in seinem Leben tat.
Seine fast blinden Augen sahen etwas Unglaubliches: Die drei Moskitos, die in dem Stein gefangen waren, lebten und flogen leise surrend in die Freiheit. Mit ihnen kam etwas, was er nicht sehen, aber fühlen konnte. Eine Macht. Eine zornige Macht.
Wie der sengende Atem eines Drachen fuhr sie auf ihn herab, doch auf wundersame Weise blieb er davon unverletzt. Die Hände allerdings, die ihm die Luft abdrückten, ließen los, und für eine kurze Sekunde sah er den Körper eines Mannes von ihm zurückweichen, der in hellen Flammen aufging und binnen eines einzigen Augenblicks zu feinem, weißem Staub zerfiel.
Artur brach nieder. Luft strömte in seine Lungen. Noch war der Schmerz gewaltig, Schwindel und Übelkeit übermächtig. Doch er begriff, dass er lebte, und nur das war wichtig.
Irgendwann spürte er eine Hand auf seinem Rücken, hob den Kopf unter Schmerzen. Erkannte undeutlich die Gestalt einer nackten Frau.
„Es war ein guter Plan, Artur“, flüsterte
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