Totenruhe - Bleikammer - Phantom
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„Wird Dr. Steinbach eine Analyse vornehmen?“, fragte Sanjay. Sie zeigte auf das Glas, in dem noch ein Rest war. „Die Zusammensetzung des Gifts könnte uns doch einen wichtigen Hinweis geben.“
Werner schien nachzudenken. Nach einer Weile antwortete er: „Dr. Steinbach ist vielleicht nicht der richtige für eine solche Analyse. Er ist Arzt der Allgemeinmedizin, kein forensischer Mediziner. Allerdings wüsste ich jemanden, der es vermutlich machen könnte.“
„Kannst du ihn anrufen?“, bat die Studentin. „Aber er müsste so schnell wie möglich kommen, ehe es sich verflüchtigt hat.“
„Ich brauche ihn nicht anzurufen. Er hält sich im Schloss auf. Und ich bin sicher, er schläft nicht einmal. Er kann die Analyse sofort in Angriff nehmen.“ Vielsagend tippte der Rektor mit dem Schuh auf den Boden und senkte den Blick. „Er sitzt in diesem Moment unter uns in seinem Labor und arbeitet.“
„Dr. Konzelmann“, brachte Sanjay hervor.
Dann spann sie den Gedanken weiter. Und erschrak.
Dr. Roderich Konzelmann, dieser menschenscheue Bär, der sich jeden Mittwochvormittag durch seinen Unterricht quälte und dem die Studenten eine Mischung aus Sympathie, Mitleid und Skepsis entgegenbrachten, hockte da unten im Keller in einem Raum voller Chemikalien und machte die Nacht zum Tag, während hier oben ein Mensch vergiftet wurde.
Natürlich würde Dr. Konzelmann keinen Grund haben, Paul etwas Böses zu wünschen – er kannte ihn ja nicht einmal. Aber musste es nicht doch irgendeine Verbindung geben?
Ein mehr als ungutes Gefühl beschlich sie. Wenn Werner Dr. Konzelmann die Analyse überließ und der Chemiker doch irgendetwas mit der Sache zu tun hatte, gab man ihm damit die Möglichkeit, alle Spuren zu verwischen. Oder neue, falsche Spuren zu legen. Schließlich verstanden sie alle zu wenig von der Materie, um das Ergebnis seiner Untersuchung einer Prüfung zu unterziehen. Mit anderen Worten: Er konnte ihnen erzählen, was er wollte, sie mussten es glauben.
Sanjay, die den Doktor stets gemocht hatte, begann sich vor ihm zu gruseln.
5
Am nächsten Morgen gab es auf Falkengrund nur ein Gesprächsthema: Den Giftanschlag auf den jungen Mann, den Sanjay mit aufs Schloss gebracht hatte.
Schon mit Pauls Anwesenheit an sich hatten ein paar Leute ihre Probleme. Und es war keineswegs die gestrenge Traude Gunkel, die Sanjay die finstersten Blicke zuwarf – die männlichen Studenten schienen alles andere als erfreut darüber, Konkurrenz von außen bekommen zu haben. Nicht nur der vorlaute Harald Salopek hatte ein Auge auf die attraktive Halbinderin geworfen. Paul hatte am Morgen das Schloss verlassen. Er hatte sich wieder so gut gefühlt, dass er mit dem eigenen Wagen nach Hause fahren konnte.
An die Diskussion, die Werner für den Vormittag angekündigt hatte, war nicht mehr zu denken. Es hatte einen Mordversuch gegeben, in ihrer Mitte. Und obwohl es zunächst niemand aussprach, war ihnen allen klar, was das bedeutete: Der Mensch, der das Gift in den Drink gekippt hatte, war mit großer Wahrscheinlichkeit einer von ihnen!
Noch während des Frühstücks kam Dr. Konzelmann aus dem Keller und verkündete in seiner stockenden, ungeschickten Art, es handle sich offenbar nicht um eines der gängigen Gifte. Arsen, Strychnin und die ganze Latte weiterer Substanzen, die Krimilesern ein Begriff waren, konnten nicht nachgewiesen werden. Stattdessen hatte der stark behaarte Doktor, den die Studenten hinter vorgehaltener Hand Mr. Hyde nannten, etwas anderes gefunden.
„Einen Schimmel-… äh … Pilz, einen Pilz“, stammelte Konzelmann. „In hoher Konzentration, äußerst … hoher.“
„Kann Campari Orange schimmlig werden?“, erkundigte sich Sanjay.
Dr. Konzelmann schüttelte den Kopf, was seine strähnigen Haare über sein ganzes Gesicht verteilte. „Ich nehme an … ein übersinnliches Phänomen.“
Margarete dankte ihm für die Mühe, die er sich gemacht hatte, zwang ihm ein Käsebrot und eine Tasse Kaffee auf. Diese nahm er zwar an, weigerte sich jedoch, sich zu den anderen zu setzen. Er habe noch im Labor zu tun. Er sah übernächtigt aus, und das so sehr, dass es durchschimmerte, obwohl man von seinem Gesicht hinter Haupthaar und Bartwuchs kaum etwas zu erkennen vermochte.
Als der Doktor im Keller verschwunden war, stand Angelika langsam auf. Das blonde Mädchen, das Geschichten schrieb und manchmal ein wenig kindlich wirkte, stellte ihr Geschirr zusammen und sagte dann in das nachdenkliche
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