Totensonntag: Ein Westfalen-Krimi (Westfalen-Krimis) (German Edition)
hatte einen Riesenwirbel gemacht. Er hatte wissen wollen, ob ihnen irgendetwas aufgefallen war. Da die Oase ja erst um rund fünf Uhr morgens seine Tore schloss, konnte die Eingangstür nur in den frühen Morgenstunden zugemauert worden sein.
»Da müsst ihr doch was gehört haben!«, hatte der Chef anklagend gesagt. »Oder wart ihr besoffen?«
Aber sowohl Rademacher als auch Mike hatten selig geschlafen und waren durch kein Geräusch gestört worden. Schließlich war es hier in der Marienloher Straße auch am frühen Morgen nie richtig still. Ab sechs Uhr nahm der Straßenverkehr deutlich zu, die Handwerksbetriebe in der Nähe ließen die ersten Maschinen laufen, und vom großen Industriekomplex Benteler mit seinen werkseigenen Bahngleisen kamen durchgehend irgendwelche Geräusche. Was sollte einem da schon auffallen?
Der Chef hatte sie als »Vollidioten« und »Totalausfälle« bezeichnet, die das Geld nicht wert seien, welches er ihnen zahlte. Während Mike gleichgültig mit den Achseln gezuckt hatte, als ginge ihn das alles gar nichts an, war der ehrgeizige Patrick Rademacher im Innersten getroffen worden. Zum Abschied hatte der Chef noch gesagt: »Ich weiß schon, wer das war. Das wird dieser Dreckskerl noch bitter bereuen.«
Rademacher musste nicht besonders scharf nachdenken, um eine Ahnung zu haben, von wem sein Chef sprach. Das konnte nur dieser Choleriker sein, der am Montag im Club randaliert hatte. Der Mann, der sich eingebildet hatte, die verstorbene Alicija habe sich ihn verliebt. So ein Spinner! Eigentlich war Rademacher davon ausgegangen, dass dieser Mann nach der Sonderbehandlung durch Mike Ruhe geben würde. Aber offenbar schrie der Kerl förmlich nach Ärger. Rademacher schmunzelte beim Gedanken daran, was sein Chef mit diesem Kerl anstellen würde.
Jetzt war es fast einundzwanzig Uhr, der Club war besser besucht als sonst, aber es gab keinen Türsteher. Rademacher war stinksauer. Mike hatte sich am späten Nachmittag aufgemacht, um in seinem Fitnessstudio zu trainieren. Das machte er donnerstags immer, und bislang war er stets um Punkt zwanzig Uhr zum Dienst erschienen. Aber nicht heute. So blieb Rademacher nichts anderes übrig, als sich selbst an die Eingangstür zu stellen und die Gäste zu begutachten und zu begrüßen. Mit Schrecken dachte er daran, dass er eventuell einen von ihnen würde hinauswerfen müssen. Mike bereitete so etwas Vergnügen, für Rademacher war es eine Herausforderung, der er sich nicht gewachsen fühlte.
Mehrfach hatte er versucht, Mike auf dem Handy zu erreichen. Immer wieder war sein Anruf ins Leere gelaufen. Oh, diesem unzuverlässigen Mistkerl würde er den Marsch blasen, nach allen Regeln der Kunst.
Um zehn Minuten nach neun kam ein neuer Gast. Ein Mann von Ende Fünfzig, der furchtbar aufgeregt wirkte. Er fuchtelte wüst mit den Armen und brauchte drei Anläufe, um Rademacher zu erklären, warum er so erregt war.
»Auf dem Parkplatz«, rief er immer wieder. «Auf dem Parkplatz steht ein Auto, und darin … darin liegt ein Toter.«
Rademacher war geneigt, den eigentlich sehr bieder wirkenden Herrn für betrunken zu halten. Doch der Mann blieb beharrlich. »Tot! Der liegt tot im Auto. Glauben Sie mir nicht? Dann kommen Sie mit!«
Ohne Rademachers Reaktion abzuwarten, lief der Besucher zu einem der Autos auf dem kleinen Parkplatz des Clubs, der diskret hinter dem Gebäude lag und von der Straße aus nicht einzusehen war. Dieser Parkplatz galt als einer der Standortvorteile der Oase. In der äußersten Ecke des Parkplatzes stand ein älterer, schon leicht ramponierter Audi A6.
»Aber das ist doch …«, stammelte Rademacher überrascht. Er beschleunigte seine Schritte und schrie entsetzt auf – nicht nur, weil in dem Auto tatsächlich ein Mann mit blutigem Gesicht lag, sondern vor allem deshalb, weil er diesen Mann kannte.
Auf dem Beifahrersitz lag leblos und den Kopf an die Tür gelehnt niemand anderer als Mike, der Türsteher.
Für ein paar Sekunden blieb Patrick Rademacher die Luft weg. Als er spürte, wie ihm die Knie weich wurden, stützte er sich auf der Kühlerhaube des Audis ab. Der Motor war noch warm, offenbar war das Auto eben erst hier abgestellt worden. Aber das registrierte Rademacher nicht, der mit einem aufkeimenden Schwindelgefühl rang.
Der Mann, der ihn hierher geführt hatte, war für solche Anblicke offenbar besser konstruiert. So einer wäre Rademacher auch gern gewesen, ein Mann der Tat, der ohne zu zögern das machte, was die
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