Totensonntag
»Es war ein schöner Abend.«
Karen Raabes Mund umspielte wieder dieses unnachahmliche Lächeln. »Ich würde Sie gerne wiedersehen, Herr Schwiete.«
»Ja«, sagte er. »Das wäre schön.«
51
Wieder keine Verbindung! Patrick Rademacher schob wütend sein Handy zurück in die Hosentasche. Jetzt hatte er schon vier Versuche gestartet, mit seinem Chef zu telefonieren, aber jedes Mal war er nur vom Anrufbeantworter vertröstet worden. Es war fast zweiundzwanzig Uhr. Eigentlich wollte Werner Hatzfeld um kurz nach zwanzig Uhr bei ihnen gewesen sein. Offenbar hatte er sein Handy nicht angeschaltet. Aber warum meldete er sich nicht? Warum rief er nicht zurück? Das sah ihm gar nicht ähnlich.
Nicht, dass er sich Sorgen um seinen Chef gemacht hätte. Ach, dachte er, der wird Frauenbesuch bekommen und dabei Zeit und Raum vergessen haben. War zwar nicht die feine Art, seine Leute ohne Nachricht sitzen zu lassen, aber dafür war er eben der Chef. Rademacher hatte nicht die Absicht, seinen guten Job dadurch zu gefährden, dass er seinen Arbeitgeber auf solche Kleinigkeiten hinwies.
Aber es gab ein anderes Problem. Er wusste nicht, wie es mit ihrem Gefangenen weitergehen sollte. Sie konnten doch nicht tagelang in dieser elenden Hütte hausen. Wenn es den Arsch der Welt wirklich gab, dann musste der ganz in der Nähe liegen. Tagsüber war er einmal nach Hövelhof gefahren, hatte Lebensmittel und andere notwendige Dinge besorgt, um einigermaßen angenehm über die Runden zu kommen. Doch er hätte eine ganze Lkw-Ladung mit Köstlichkeiten kaufen können, angenehm wäre es trotzdem nicht geworden. Es war einfach unmöglich, sich mit Mike in einem geschlossenen Raum aufzuhalten und sich dabei wohlzufühlen. Mike war jemand, der seinen niederen Instinkten einen Altar gebaut, aber seinen Verstand in eine Schublade gesteckt und dort vergessen hatte. Wenn denn überhaupt jemals eine nennenswerte Portion davon vorhanden gewesen war.
Und der Gefangene?
Werner Kloppenburg schien sich fatalistisch in sein Schicksal ergeben zu haben. Er jammerte nicht, er schimpfte nicht, saß meistens still und in sich gekehrt auf seinem Stuhl. Nach wie vor mit Handschellen am Stuhlrücken gefesselt. Rademacher hatte ihm zweimal ein paar Butterbrote geschmiert. Jedes Mal hatte Kloppenburg die Stullen mit Heißhunger verdrückt. Sie waren dreimal mit ihm vor die Hütte gegangen und hatten ihn unter Bewachung sein Geschäft verrichten lassen. Niemand konnte behaupten, sie wären nicht gut mit ihrem Gefangenen umgegangen, fand Rademacher. Dabei hatte es ihn selbst immer wieder in den Fingern gejuckt, diesen Mann etwas zu quälen. Aber sein Chef hatte in dieser Hinsicht klare Ansagen gemacht. Einschüchtern ja, aber nichts kaputt machen. Daran hielt sich Rademacher.
Leider war Mike aus ganz anderem Holz geschnitzt. Dieser Mann war eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment explodieren konnte.
»Dieser Scheißkerl hat mir ein Ohr abgeschnitten!«, schrie er immer wieder. »Glaub bloß nicht, dass ich das schon vergessen habe!«
Nein, das glaubte Rademacher keine Sekunde. Er hatte Mike oft genug im Einsatz erlebt, wenn er in der Oase »Hausputz« machte und zahlungsunwillige oder regelüberschreitende Freier hinauswarf. Dann war Mike in seinem Element, war eins mit sich und seiner Arbeit. So einer vergaß keine Demütigung.
»Du weißt, was der Chef gesagt hat!« Mit diesem Argument versuchte Rademacher immer wieder, ihn auszubremsen. Aber seit einer Stunde lachte Mike darüber nur noch trocken.
»Der Chef!«, höhnte er. »Den interessiert das hier doch gar nicht mehr. Der liegt gerade mit irgendeiner Schlampe aus dem Club im Bett und lässt sich verwöhnen. Weiß bloß nicht, auf welche Titten er es gerade abgesehen hat. Jetzt, wo Irina schon tagelang weg ist.«
Auch Rademacher hatte mittlerweile herausbekommen, dass der Chef mit Irina schlief. Sie war immer schon seine Favoritin gewesen, in der letzten Zeit wohl auch seine Vertraute. Das hatten ihm die anderen Prostituierten des Clubs mittlerweile gesteckt.
»Wer passt heute eigentlich auf den Club auf, wenn wir beide nicht da sind?«, sagte Rademacher.
Mike zuckte mit den Achseln. »Ist mir doch egal! Wenn der Chef mich hierherschickt, kann er nicht erwarten, dass ich gleichzeitig im Club den Türsteher mache. Soll er doch selber die Dreckskerle beim Kragen packen und rauswerfen. Ist doch kein Schwächling. Ich bin jedenfalls hier. Und ob du da bist oder nicht, ist sowieso egal. Dich vermisst
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