Totensonntag
›Diesmal das Ohr – beim nächsten Mal dein Leben. Aber wir können reden. Wenn du zahlst, darfst du leben. Sonst nicht. Ich melde mich wieder.‹ So, jetzt wird es aber wirklich Zeit für die Spritze.«
53
Warum war immer er an der Reihe, wenn es darum ging, das langweiligste Thema der Woche zu besetzen? Frank Heggemann war freier Mitarbeiter der Paderborner Zeitung , stand damit auf der untersten Stufe der Hackordnung in der Redaktion und musste sich mit dem zufriedengeben, was man ihm gnädigerweise überließ. Am Freitag war in der Redaktionssitzung irgendein Schlauberger auf die Idee gekommen, noch einmal den Fall mit dem explodierten Haus aufzugreifen, und zwar die emotionale Seite der Geschichte. Der pfiffige Redakteur hatte Wind davon bekommen, dass die ums Leben gekommene Frau erst ihre Katze bei den Nachbarn in Sicherheit gebracht und sich dann in die Luft gesprengt hatte. Das sei doch eine Story, die den Lesern zu Herzen gehe, fand die Runde und beschloss, Heggemann mit dieser rührseligen Angelegenheit zu beauftragen. Es hatte schlicht und einfach niemand sonst Lust dazu gehabt.
Heggemann hatte sich bei den Nachbarn der Selbstmörderin zu einem Gesprächstermin angemeldet. Er hatte nur wenig Zeit, denn am späten Sonntagnachmittag war in der Sportredaktion Hochbetrieb, und da wurde auch er gebraucht. Ein kurzes Gespräch, ein oder zwei Fotos von dem alten Ehepaar mit der Katze auf dem Arm – und nichts wie weg.
Als Walter Hermskötter die Haustür öffnete, schlug Heggemann bereits im Flur Kaffeeduft entgegen. Okay, an einer schnellen Tasse Kaffee im Stehen war nichts auszusetzen.
»Schön, dass Sie gekommen sind«, begrüßte ihn Hermskötter freundlich. »Meine Frau hat extra einen Kuchen gebacken. Sie macht den besten Kuchen in Paderborn, Sie werden zufrieden sein.«
Frank Heggemann schluckte seine Einwände hinunter, als er Frau Hermskötter gegenüberstand, die ihm voller Stolz ihre liebevoll gestaltete Kaffeetafel präsentierte. Er brachte es nicht mehr übers Herz, die gastfreundlichen alten Leute zu enttäuschen, und setzte sich resigniert an den Tisch. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis es Heggemann zum ersten Mal gelang, auf das eigentliche Thema seines Besuches zu sprechen zu kommen. Walter Hermskötter, der offenbar gern redete, hatte genau wissen wollen, wie es zuging in so einer Zeitungsredaktion. Dabei versäumte er nicht, Heggemann auf die vielen Fehlentwicklungen in der Stadt hinzuweisen, über die er unbedingt mal schreiben sollte. Heggemann nickte geduldig und versprach so oft, sich um alles zu kümmern, bis Hermskötter zufrieden war. Immer wieder goss Maria Hermskötter Kaffee nach und legte ein neues Stück Frankfurter Kranz auf den Teller ihres Besuchers. Heggemann beschloss nun, energisch zu werden.
»Vielen Dank, Frau Hermskötter, aber ich muss nun zur Sache kommen. Auch Sie wollen ja morgen früh die Zeitung lesen, und deshalb muss ich mich beeilen. Wo ist denn eigentlich die Katze? Die habe ich ja noch gar nicht gesehen.«
»Ach«, schwärmte die Hausfrau, »Natascha hat ihr eigenes Zimmer bekommen. Wir haben ja viel Platz, seit die Kinder aus dem Haus sind. Ich hole sie mal eben.«
Kurz darauf kam sie zurück und trug eine kleine, schwarz-weiß gestreifte Katze auf dem Arm. Sofort fiel Heggemann auf, dass dem Tierchen das rechte Ohr fehlte.
»Das ist unsere Natascha!«, verkündete sie stolz. »Ich sage unsere, denn wir haben uns so an sie gewöhnt. Und ihr Frauchen kann sie ja nun leider nicht mehr holen. Einfach schrecklich, die ganze Sache.«
»Genau darüber wollte ich mit Ihnen sprechen. Unserer Zeitung geht es vor allem um den rührenden Aspekt mit der Katze. Ihre Natascha wird noch berühmt werden, verlassen Sie sich darauf. Erzählen Sie doch bitte noch einmal, wann haben Sie denn Natascha zum ersten Mal gesehen? Und was ist mit dem Ohr passiert?«
Etwas umständlich ergriff nun wieder der Herr des Hauses das Wort und schilderte in buntesten Farben, was am Abend des Totensonntags passiert war. Er ließ nichts, aber auch gar nichts aus.
»Aber was mit dem Ohr passiert ist, wissen wir auch nicht. Natascha sah schon so aus, als sie zu uns kam«, beendete Hermskötter seine Ausführungen.
Heggemann fühlte sich leicht benommen, wobei er nicht wusste, ob das mit der Menge an Kuchen oder dem ausschweifenden Redefluss von Walter Hermskötter zu tun hatte. Besser so, als einem alles aus der Nase ziehen zu müssen, tröstete sich Heggemann.
»So, und
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