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Totenstätte

Totenstätte

Titel: Totenstätte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. R. Hall
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    W ährend der sechs Monate, die Jenny Cooper nun als Coroner des Severn Vale District arbeitete, hatte sie nur wenige Leichen zu Gesicht bekommen, die länger als ein oder zwei Tage nicht identifiziert werden konnten. Eingewickelt in ihr Leichentuch aus weißem Plastik lag die Jane Doe, wie unidentifizierte weibliche Tote genannt wurden, mittlerweile seit über einer Woche in dem unteren Kühlfach in der Leichenhalle des Severn Vale District Hospital. Da man mit den Obduktionen stark im Rückstand war, hatte noch niemand JD0101 aufgeschnitten und untersucht.
    Die Leiche war auf der englischen Seite der Severnmündung angespült worden, dort wo der Avon in den Severn floss. Die Strömung hatte sie mit sich getragen und auf einer Sandbank ein Stück flussabwärts von der Stelle, wo die Autobahn M5 den Fluss überquerte, liegen lassen. Sie trug keine Kleidung, war blond, einen Meter siebenundsiebzig groß, hatte keinerlei Körperbehaarung und war schon teilweise von den Möwen angefressen worden. Vom weichen Gewebe ihres Unterleibs und ihrer Brüste war nicht mehr viel übrig, und wie bei allen Leichen, die für eine gewisse Zeit den Elementen ausgesetzt waren, hatte sie anstelle der Augen nur noch leere Höhlen. Weil sie noch identifiziert werden musste, hatte Jenny darauf bestanden, dass man ihr Glasaugen einsetzte, deren unnatürliches Blau ihrem Gesicht nun etwas Dümmliches, Puppenhaftes verlieh.
    Alison Trent, Jennys Assistentin, hatte für den späten Freitagnachmittag einen Termin angesetzt, damit einige Angehörige vermisster Mädchen einen Blick auf die Leiche werfen konnten. Kurz zuvor war sie dann zu einem Supermarkt gerufen worden, wo man in einem Kühltransporter zwischen einer Ladung Rinderhälften aus Frankreich die Leichen dreier junger Afrikaner entdeckt hatte. Um die Familien nicht auf die Folter zu spannen, beschloss Jenny unwillig, ihr Büro früher zu verlassen und den Termin in der Leichenhalle selbst zu übernehmen.
    Es war die letzte Januarwoche. Eisiger Schneeregen fiel schräg aus dem stahlgrauen Himmel. Obwohl es noch nicht einmal vier war, hatte sich das Tageslicht bereits verflüchtigt. Als Jenny eintraf, wartete etwa ein Dutzend Personen im Eingangsbereich der Leichenhalle, die hinter dem Krankenhaus lag. Die alten Heizlüfter waren entweder nicht angeschaltet oder defekt, und wenn sich die Wartenden, die in Paaren gekommen waren, miteinander unterhielten, konnte man ihren Atem als winzige Wölkchen sehen. Die meisten waren Eltern mittleren Alters, sie verbargen Gefühle wie Schuld und Scham hinter einer Miene von unverhohlener Panik. In ihren düsteren, von Falten durchfurchten Gesichtern stand die Frage: Wie konnte es nur so weit kommen?
    Da kein Pathologieassistent Zeit hatte, die Leichenschau zu begleiten, war Jenny gezwungen, sich wie eine Lehrerin an die Gruppe zu wenden und sie aufzufordern, nacheinander durch die Schwingtür zu treten und bis nach hinten zum Kühlraum durchzugehen. Sie bereitete sie darauf vor, dass sie die Tote vielleicht nicht ohne Weiteres identifizieren könnten, und nannte die Kontaktdaten eines Privatlabors, das DNA-Proben nehmen und die Befunde mit denen der Jane Doe vergleichen konnte. Die Kosten hielten sich zwar in Grenzen, ließen sich aber nicht aus ihrem bescheidenenBudget bestreiten. Pflichtbewusst notierten sich die Leute E-Mail-Adresse und Telefonnummer des Labors. Nur einer der Anwesenden verzichtete darauf, wie Jenny bemerkte. Er trug sich auch nicht in die Liste derjenigen ein, die informiert werden wollten, wenn weitere nicht identifizierte Leichen auftauchten. Der große, schlanke Mann, der etwa Mitte fünfzig sein durfte, hielt sich von der Gruppe fern. Sein schmales, wettergegerbtes Gesicht war ausdruckslos, und nur die Art und Weise, wie er sich gelegentlich durch das mit grauen Strähnen durchzogene Haar strich, ließ eine gewisse Unruhe erahnen. Jenny bemerkte seine umwerfenden grünen Augen und hoffte, dass es nicht seine Tränen sein würden, die gleich auf den gekachelten Boden fielen.
    Tränen gab es immer.
    Das Gebäude war so konstruiert, dass schon vorhandene Traumata der Besucher noch verstärkt wurden. Wenn sie die zwanzig Meter durch den Flur gingen, kamen sie an einer langen Reihe von Bahren vorbei, auf denen in glänzend weißen Plastikhüllen die Leichen lagen. In der abgestandenen Luft hing der Gestank von Verwesung und Desinfektionsmitteln, dazu kam ein Hauch vom Qualm verbotener Zigaretten. Eins nach dem anderen

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