Totentaenze
Licht dieses unterirdischen Massengrabes zu gewöhnen. Nach und nach konnte ich erkennen, dass rechts und links des engen Wegs horizontale Spalten ins Erdreich getrieben worden waren. Gigantische, bis an die Decke reichende Regale. Allerdings leer, wie ich zu meiner Enttäuschung feststellte.
»Hier wurden nicht nur die Toten bestattet, sondern auch Gottesdienste abgehalten, als sie … verboten waren …«, hallte die Stimme des italienischen Führers heran, als ein spitzer Schrei seinen Vortrag unterbrach.
Ich drehte mich um und sah Julia, die theatralisch eine Hand vor den Mund gepresst hielt. Mit der anderen zeigte sie in einen mit einem rot-weißen Band abgesperrten Nebengang, wo in den Regalfächern deutlich Skelette zu erkennen waren. Bis zur Decke waren die Fächer vollgestopft mit bräunlich gelblichen Knochen und Schädeln. Zutritt verboten, stand dort in mehreren Sprachen auf einem Schild.
»Der Tod lauert überall …«, raunte hinter mir eine Stimme. Es war Tadeusz, der mich aus seinen kajalumrandeten Augen angrinste. Als Gothic muss er sich heimisch fühlen, dachte ich, sagte: »Idiot«, und wandte mich wieder der Hauptgruppe zu.
Unsere Wanderung durch die Eingeweide der Totenstadt dauerte länger als eine Stunde. Benommen taumelten wir wieder nach oben ans Tageslicht, ohne zu ahnen, was dort unten geschehen war.
Im Rückspiegel fixieren mich die Augen des Taxifahrers. Er ist mir unangenehm. Wer weiß, welche Fantasien gerade in seinem Kopf toben. Ich wünschte, ich hätte eine Waffe. Ich umklammere meine Handtasche auf meinem Schoß. Aber ich habe nur ein scharfes Küchenmesser darin, das ich aus der Klosterküche habe mitgehen lassen. Nur so, aus einer Art archaischer Intuition heraus. Die Ampel vor uns schaltet auf Rot. Obwohl mir der Fahrer unangenehm ist, hoffe ich, dass die Fahrt noch viel, viel länger dauert. Ja, dass ich am Ende doch nicht aussteigen muss.
Erinnere dich, sagt mir meine innere Stimme, je klarer du dich erinnerst und die Wirklichkeit siehst, umso weniger kann die Angst von dir Besitz ergreifen.
Ja, ich erinnere mich …
Frau Dr. Bart-Keferlein, erfuhren wir beim Ausstieg aus den Katakomben, war ins Krankenhaus gebracht worden, da ihr Handrücken erschreckend schnell angeschwollen war.
An Levke dachte ich erst wieder, als wir in unserem Kloster angekommen waren, Frau Dr. Bart-Keferlein mit einem dicken Verband um ihre Hand ihren Blick über uns, die wir verstreut im Innenhof hockten, streifen ließ und fragte: »Wo ist Levke?«
Niemandem schien ihr Fehlen bisher aufgefallen zu sein. Herr Rentsch hatte sich beim Zählen immer auf die Keferlein verlassen und Julia und Sandra erklärten, sich den ganzen Rückweg lang intensiv unterhalten zu haben. Worüber, wollten sie nicht sagen.
Natürlich fingen alle gleich an, wilde Spekulationen zu betreiben. Levke, die rebellische Levke, hatte wahrscheinlich einfach die Nase voll von langweiligen Übernachtungen im Kloster und kilometerweiten Wanderungen durch die Ewige Stadt, stundenlangen Kirchenbesichtigungen und endlosen Museumsbesuchen. Obwohl Levke ja meine Freundin war, musste ich in dem Moment einräumen, dass sie tatsächlich eine erschreckend profane Seite hatte. Sie hätte die Woche in Rom nur mit Shopping und Jungsaufreißen verbringen können. Ob sie wirklich einfach auf Shoppingtour gegangen war …?
Herr Rentsch hüstelte schließlich und verkündete, die Polizei und Levkes Eltern benachrichtigen zu müssen, falls Levke bis zum Abendessen nicht wieder auftauchen sollte.
Die zwei Stunden bis zum Abendessen erschienen mir wie eine Ewigkeit. Vergeblich hatte ich ein paar Mal versucht, Levke auf ihrem Handy zu erreichen. Ich war schon auf dem Weg in den Speiseraum, als mir unsere beiden Lehrer entgegenkamen und mich um ein kurzes Gespräch baten.
»Rixa, du bist doch mit Levke befreundet. Hast du eine Ahnung, wo sie stecken könnte?«, fragte Herr Rentsch.
Ich schüttelte den Kopf, doch Herr Rentsch ließ nicht locker. »Wann hast du sie denn das letzte Mal gesehen?«
Genervt zuckte ich die Achseln – dass Levke aber auch immer im Mittelpunkt stehen musste!
»Also, du musst doch wissen, wo du sie zuletzt gesehen hast!« Herrn Rentschs blaue Augen sahen mich durch seine randlose Brille an.
»Nein, weiß ich nicht.« Ich habe nicht mehr auf sie geachtet, weil ich mich zuvor mit ihr gestritten habe. Weil ich sie eine arrogante Ziege genannt habe. Weil sie mich daraufhin als Arschkriecher bezeichnet hat und ich danach
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