Totentöchter - Die dritte Generation
dem Foto. Dann fährt sie mit dem Finger die Konturen des Jungen nach. »Das ist mein Linden.« Einen Moment lang scheint sie sich in seinem Anblick zu verlieren. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf ihre bemalten Lippen. »Wir sind zusammen aufgewachsen.«
Ich weiß nicht recht, was ich dazu sagen soll. Sie ist so in diese Erinnerung versunken und so blind für meine Gefangenschaft. Trotzdem tut sie mir leid. In einer anderen Zeit, unter anderen Umständen, müsste sie nicht ersetzt werden.
»Siehst du?«, sagt sie und zeigt auf das Foto. »Das ist unser Orangenhain. Mein Vater hat ganze Orangenfelder besessen. Hier in Florida.«
Florida. Mich verlässt der Mut. Ich bin in Florida, ganz im Süden der Ostküste, mehr Meilen von zu Hause entfernt, als ich zählen kann. Ich vermisse mein vom Efeu gezeichnetes Haus. Ich vermisse das Rumpeln der Vorortzüge in der Ferne. Wie soll ich je dorthin zurückfinden?
»Sie sind wunderbar«, sage ich über die Orangen. Weil es wahr ist. Sie sind wunderbar. An diesem Ort scheinen die Dinge zu gedeihen. Ich hätte nie angenommen, dass das springlebendige Mädchen, das da neben ihrem Pferd im Hain steht, jetzt hier sterben könnte.
»Ja, nicht wahr?«, sagt sie. »Linden bevorzugt allerdings Blumen. Im Frühling gibt es Orangenblütenfeste. Die hat er am liebsten. Im Winter gibt es Schneefeste und Sonnwendbälle, aber die mag er nicht. Sie sind ihm zu laut.«
Sie wickelt ein grünes Bonbon aus und steckt es sich in den Mund. Einen Moment schließt sie die Augen und genießt offensichtlich den Geschmack. Jedes Bonbon hat eine andere Farbe, und dieses, das grüne, hat einen Pfefferminzgeruch, der mich in meine Kindheit zurückversetzt. Ich denke an das kleine Mädchen, das mir ihre Bonbons ins Zimmer geworfen hat, denke daran, wie der Geruch den Pappbecher ausgefüllt hat, in den ich ihr antwortete.
Als Rose wieder spricht, hat ihre Zunge die smaragdgrüne Farbe des Bonbons angenommen. »Dabei ist er ein hervorragender Tänzer. Ich weiß nicht, warum er so ein Mauerblümchen ist.«
Sie legt das Bild auf den Diwan mitten in ein Meer aus Bonbonpapierchen. Ich werde nicht schlau aus dieser Frau, die so erschöpft und traurig ist, die Deidre angefahren hat, mich aber wie eine Freundin behandelt. Meine Neugier unterdrückt meine Bitternis für den Moment. In dieser seltsamen Welt voller schöner Dinge, denke ich, gibt es vielleicht doch etwas Menschlichkeit.
»Weißt du, wie alt Linden ist?«, fragt sie mich. Ich schüttele den Kopf. »Er ist einundzwanzig. Schon als Kinder hatten wir vor zu heiraten, und ich vermute, er dachte, all diese Medikamente würden mich vier Jahre länger am Leben erhalten. Sein Vater ist ein sehr bekannter Arzt – erste Generation. Er arbeitet unermüdlich daran, ein Gegenmittel zu finden.« Das Letzte sagt sie in einem etwas fabulierenden Ton, wobei sie die Finger in der Luft herumflattern lässt. Sie glaubt nicht an ein Gegenmittel. Viele tun es. Wo ich herkomme, strömen die neuen Waisen in Scharen in die Labore und bieten sich für ein paar Dollar extra als Versuchskaninchen an. Aber sie finden kein Gegenmittel und eine eingehende Analyse unseres Genpools hat keine Abweichungen ergeben, die eine Erklärung für das tödliche Virus liefern könnten.
»Aber du«, sagt Rose. »Sechzehn ist perfekt. Ihr könnt den Rest eures Lebens zusammen verbringen. Er wird nicht allein sein müssen.«
Ich spüre, wie es im Raum kalt wird. Draußen im unendlichen Garten zirpt es und summt, doch das erscheint mir Millionen Meilen weit weg. Einen Moment hatte ich fast vergessen, warum ich hier bin. Vergessen, wie ich hierhergekommen bin. Dieser schöne Ort ist gefährlich –
wie milchig weißer Oleander. In diesem blühenden Garten soll ich gehalten werden, dazu ist er da.
Linden hat seine Bräute gestohlen, damit er nicht allein sterben muss. Was aber ist mit meinem Bruder, allein in dem leeren Haus? Und was ist mit den anderen Mädchen, die in diesem Lastwagen erschossen wurden?
Meine Wut ist wieder da. Ich balle die Fäuste und wünsche, es möge jemand kommen und mich aus diesem Zimmer herausholen, selbst wenn das bedeutet, dass ich irgendwo anders in diesem Haus eingesperrt werde. Ich ertrage nicht noch einen einzigen Augenblick in Roses Gegenwart. Rose mit ihrem offenen Fenster. Rose, die auf ein Pferd gestiegen und durch die Orangenhaine geritten ist. Rose, die beabsichtigt, ihr Todesurteil an mich weiterzugeben, wenn sie erst einmal gegangen
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