Totgeschwiegen
sein?”
“Nein.”
“Als ich vor ein paar Wochen mit ihr gesprochen habe, hat sie nichts davon erzählt.”
“Das ist eine recht frische Beziehung, falls man es überhaupt so bezeichnen kann. Ich habe am Samstag mit Clay telefoniert, und er hat mir erzählt, dass sie oft weggeht und ein ziemliches Geheimnis daraus macht. Deshalb fragen wir uns, ob sie vielleicht heimlich jemanden trifft.”
“Glaubst du, es ist jemand aus Stillwater?”
“Falls es so ist, kann ich mir nicht vorstellen, wer es sein sollte. Du weißt ja, wie die Leute sie immer behandelt haben.”
“Aber es ist doch nicht mehr so schlimm wie früher, oder?”
“Natürlich nicht. Aber es gibt immer noch viele, die nichts mit ihr zu tun haben wollen.”
“Die Menschen hier sind wirklich entsetzlich misstrauisch und nachtragend.”
Molly ignorierte diesen Kommentar. “Jedenfalls hat sie jemanden gefunden. Und das wurde doch auch Zeit. Wenn man bedenkt, was sie alles durchgemacht hat … Sie verdient es, einen netten Mann um sich zu haben.”
“Und was ist, wenn er nicht nett ist?”
“Irgendwann muss es das Schicksal doch auch mal wieder gut mit uns meinen, findest du nicht? Sie kann doch nicht dreimal hintereinander eine Niete ziehen.”
Da konnte man sich nie sicher sein. Und selbst wenn ihre Mutter einen netten Mann kennengelernt hatte – durfte man ihn mit der Vergangenheit ihrer Familie belasten? Das Schlimmste durfte er natürlich nie erfahren. Das war ja auch ein Problem in ihrem Verhältnis zu George – ihre Unfähigkeit, ihm vollkommen ehrlich gegenüberzutreten. “Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass sie es noch schlechter treffen könnte als mit unserem Vater und Reverend Barker.”
“Unser Vater war doch gar nicht so schlimm.”
“Aber er ist abgehauen.”
“Das meine ich ja. Er hat einen einzigen großen Fehler begangen, nicht zwei. Und Mom hätte diesen Reverend nie geheiratet, wenn sie nicht so verzweifelt gewesen wäre. Sie wollte doch nur die Familie zusammenhalten.”
“Ich weiß.” Grace warf ihrer Mutter nicht vor, dass sie auf ihren zweiten Ehemann hereingefallen war. Er hatte ihr viel versprochen und sich zu Anfang wie ein solider Partner verhalten, wie einer, der zu seiner Frau hält und die Kinder unterstützt. Er hatte sich nicht davongestohlen wie ihr leiblicher Vater. Niemand hätte sich vorstellen können, welch finstere Seite dieser fromme Mann gehabt hatte.
“Warum hast du mir nichts davon erzählt?”, fragte Molly.
“Wovon?” Grace war furchtbar heiß. Sie zog sich das T-Shirt über den Kopf und setzte sich nur mit einem Slip bekleidet vor den Ventilator. Auf ihrer feuchten Haut fühlte sich der Lufthauch angenehm kühl an.
“Dass du nach Stillwater zurückgehst.”
Grace hatte diese Entscheidung alleine gefällt. Sie wusste, dass Molly ihr gerne beigestanden hätte; sie wollte es immer allen recht machen und versuchte, sich um alle zu kümmern. Grace widerstrebte es, das auszunutzen. “Der Gedanke ist mir eher spontan gekommen”, log sie.
“Kaum zu glauben.”
“Aber es stimmt.”
“Du musstest doch bestimmt eine ganze Menge Dinge in die Wege leiten.”
“Ach was. Das ging alles sehr schnell.”
“Wenn du meinst.” Offensichtlich wollte Molly keinen Streit mit ihr anfangen. “Und wie fühlt es sich an, wieder zurück zu sein?”
Grace ließ sich aufs Bett fallen, starrte zur Decke und suchte nach einer Antwort. Es fiel ihr nicht leicht, hier zu sein, aber in diesem Moment hatte sie das Gefühl, in dieses Haus zu gehören, ins Haus von Evonne. Und dass sie sich nicht hetzen musste und nicht tausend Sachen zu erledigen hatte, fühlte sich auch gut an.
“Es ist ganz nett hier.”
“Wie lange willst du denn bleiben?”
“Ich habe das Haus für drei Monate gemietet, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich ausnutzen will.”
“Du solltest unbedingt Mom anrufen.”
“Das wollte ich ja. Ich hatte … zu tun.”
“Das dauert doch nur ein paar Minuten.”
“Bitte dräng mich nicht, Molly.”
“Will ich ja gar nicht. Dafür habe ich im Moment gar keine Zeit. Ich komme noch zu spät zur Arbeit, wenn ich mich jetzt nicht beeile.”
“Dann will ich dich nicht länger aufhalten.”
“Ruf mich an, wenn du was brauchst.”
“Das mache ich”, sagte Grace. Bevor ihre Schwester auflegen konnte, fiel ihr noch etwas ein: “Molly?”
“Ja?”
“Willst du es nicht auch mal versuchen?”
“Was denn?”
“Zurückkommen, Clay besuchen in …
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