Tränen der Lilie - Die Kristallinsel (Dreamtime-Saga) (German Edition)
danach den
Wambli-Wächtern zu. Stumm traten diese aus dem Hintergrund hervor und zogen
Michael das weiße Seidenhemd aus. Danach strichen sie seine schwarzen Haare zur
Seite und legten damit sein Tapuat-Tattoo frei, das sich zwischen seinen
Schulterblättern befand.
Das magische Symbol aller
Geisterkrieger. Der Kreis in der Mitte spiegelte das Labyrinth des ewigen
Lebens, denn der Weg hinein ist der gleiche wie der Weg hinaus. Die ornamentalen
Ranken um es herum symbolisierten die Nabelschnur, die alle Lilienseelen
miteinander verband. Tohu wandte sich seinem Bruder zu, der eine uralte,
hölzerne Truhe in den Händen hielt.
Langsam öffnete er die silbernen
Beschläge und nahm vorsichtig den heiligen Yali heraus. Einen kleinen 30 cm
langen zeremoniellen Dolch mit einer stecknadeldünnen Spitze am Ende. Tohus
dunkler Bariton erhob sich zu einem schamanischen Gebet.
Dabei ging er in langsamen
Schritten drei Mal um Michaels Gestalt herum, bis er hinter seinem Rücken
stehenblieb. Nach der uralten überlieferten Tradition ihrer Urahnen hielt er den
Dolch eine Handbreit über seiner Brust in die Höhe. Eine atemlose Stille lag
jetzt in der Luft.
Jeder wartete auf das Zeichen.
Und dann erschien es. In diesem Moment streifte der letzte, noch funkelnde
Sonnenstrahl die silberglänzende Klinge. Die hauchdünne Spitze leuchtete
daraufhin in einem irisierenden Goldton auf. Das göttliche Zeichen, dass die
übernatürlichen Kräfte Ortancans den Dolch mit Leben erfüllt hatten und Amy und
Michael damit für würdig erklärt wurden, ihren Bund zu schließen.
Tohu sprach eine indianische
Beschwörung und mit der letzten Silbe des Satzes stach er die Dolchspitze genau
in das Zentrum des runden Tapuat-Tattoos. Amy sah zu Michael hinüber und
freudige Aufregung spiegelte sich in ihrem Gesicht. Die Wamblis hatten sie etwas
abseits geführt und sie stand jetzt etwas entfernt zu Michaels linker Seite und
schenkte ihm ein strahlendes Lachen.
Sie hatte keine Angst – im
Gegenteil. Noch niemals in ihrem Leben war sie sich einer Sache so sicher
gewesen wie in diesem Moment. Erwartungsvoll glitten ihre Augen zu Tohu, der
sich jetzt umdrehte und ihren eigenen Körper auf die gleiche zeremonielle Weise
drei Mal zu umkreisen begann. Dann blieb er vor ihr stehen.
Bei seiner murmelnden Beschwörung
schloss sie die Augen. Tohu hob langsam den kleinen Dolch und stach ihr mit
einem präzisen Stich mitten zwischen die Augen – direkt in das Zentrum allen
Seins. Es entstand nur ein winzig kleines Loch, aus dem jetzt einige Tropfen
Blut sickerten. Amy verspürte keinerlei Schmerz.
»Öffne deine Augen und folge mir,
meine Tochter.«
Mit diesen Worten nahm Tohu sie
behutsam an die Hand und führte sie drei Mal im Kreis um Michael herum, bis sie
hinter ihm stehenblieben. Danach erklang Tohus erhabene Stimme in der Grotte.
»Mit dem Segen von Otancan und unserer Ahnen werden sich jetzt, da das Abendrot
über dem heiligen Berg erstrahlt, Eure Seelen miteinander verflechten – für die
Ewigkeit.« Sanft leitete er Amys Kopf und legte ihre Stirn gegen Michaels
Tapuat.
Und in dem Moment, als sich ihr
Blut miteinander vermischte, spürte sie, wie sich ihrer beider Herzschlag
miteinander verband. Sie fühlte, wie seine Gedanken durch ihre Adern strömten.
Es war berauschend, magisch. Michael entführte sie auf ewig an einen geheimen
und sonnigen Ort ihrer grenzenlosen Liebe.
Bewegt schluckte sie, als seine
Gedanken durch ihren Körper hallten: »Meine geliebte Amy. Keiner Frau ist es je
zuvor in meinem jahrhundertealten Leben gelungen, mich zu diesem Ort zu
entführen. Durch die ganzen Jahre hindurch war ich inmitten der Menschen und
Meinesgleichen immer nur ein einsamer Jäger. Du hast meine Träume endlich zum
Leben erweckt.«
Amy wurde von der Wucht seiner
Gefühle beinahe umgerissen. Sie konnte sich durch die mentale Anstrengung kaum
noch aufrecht halten. Zaghaft schlang sie ihre Arme um seinen muskulösen Bauch
und Michael verschlang seine Finger beruhigend mit ihren. Mit geschlossenen
Augen fühlte sie sein Blut in ihren Körper einfließen und ein warmes und süßes
Gefühl durchströmte sie.
Ihre beiden Seelen bewegten sich
kraftvoll aufeinander zu. Und dann wurden ihre beiden Körper zeitgleich von
einem leichten Zittern erschüttert. Das war das Zeichen, dass sich ihre beiden
Seelen unabänderlich miteinander zu einem untrennbaren Band der Liebe
verflochten hatten.
Der
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