Traeume von Fluessen und Meeren
… als ich ihn fragte – das war bei unsererersten Begegnung –, warum er zu mir gekommen sei, sagte er, er fände die ayurvedische Medizin, ich zitiere, ›absolut charmant‹.« Der Arzt runzelte die Stirn und strich erneut über seine gelbe Krawatte. »Eine seltsame Formulierung, finden Sie nicht auch, zur Beschreibung einer Lehre, die viele Jahrhunderte alt ist: absolut charmant.«
Als Paul ein paar Minuten später die Tür hinter sich zumachte, entschied er sich, die Treppe zu benutzen. Es waren nur drei Stockwerke. Als er die Stufen vom zweiten in den ersten Stock hinunterlief, hörte er, wie jemand seinen Namen rief. »Paul?«
Paul blieb stehen und ging zurück zum Treppenabsatz. Es war eine Männerstimme, dachte er. Niemand war zu sehen.
Paul schaute nach oben zu Dr. Bhagats Praxis. Aber dann fiel ihm ein, dass der Arzt seinen Vornamen gar nicht kannte. Niemand hier kennt meinen Vornamen, dachte er.
Er stand auf dem Treppenabsatz, ein bisschen außer Atem, und wünschte, er könnte die Zeit um ein paar Sekunden zurückdrehen. Paul. Paul. Dann drehte er sich um und ging die Treppe hinunter. Draußen auf der Straße bestand die Welt aus einer wirbelnden Staubwolke.
24
Jetzt möchte John gern zu seiner Mutter fahren. Ein Ende ist abzusehen: Begegnung, Krise, dann nach Hause. Er möchte alles beschleunigen, möchte möglichst schnell im Flugzeug nach England sitzen. Er will so bald wie möglich in ein Internetcafé gehen und eine E-Mail an Simon schicken. Er wird sich eine Ausrede einfallen lassen. »Mutter sehr krank.« Dieses Intermezzo hier wird mein Leben nicht zerstören, sagt er sich. Er will Elaine eine SMS schicken: »Komme zurück. Liebe dich.« Aber er tut es nicht. Elaine hat geschrieben: »Wenn du wüsstest, wie dieser Scheißkerl Hanyaki mich behandelt, würdest du dich schämen wegen deiner Anschuldigungen.« Und in einer anderen Nachricht: »Ich bezweifle, dass ich zur ersten Vorstellung noch dabei bin, von der letzten ganz zu schweigen.« Mit jeder ihrer Nachrichten wird es schwieriger für John, ihr zu antworten. » ICH HASSE DICH «, erklärt sie ihm. Sie sollte aufhören, ihm zu schreiben.
Er packt das Paschminatuch aus. Das Material fühlt sich wunderbar weich und fließend an; die goldenen Stickereien auf dem lila Untergrund sind komplex und vollkommen symmetrisch. Er erkennt jetzt, dass es winzige Elefanten sind. Das war ihm vorher nicht aufgefallen. Winzige fließende Schlangen. 3000 Rupien. Mit Goldfaden gestickte Elefanten mit erhobenen Rüsseln, die sich in Dreiergruppen wie Schlangen um die lilafarbenen Kanten winden. Handgearbeitet von den Mädchen in Kaschmir. Die Hotelrechnung muss noch bezahlt werden. John sollte aufseine Ausgaben achten, aber er tut es nicht. Er saugt den sauberen Geruch des Stoffes ein und stellt sich vor, wie er das Tuch um Elaines krauses, duftendes Haar legt, wie die Elefanten und Schlangen ihr elfenhaftes, typisch englisches Gesicht einrahmen. Liebe ich Elaine oder nicht? Weiß ich überhaupt, was diese Frage bedeutet? Zuerst musste er in den Sarg seines Vaters schauen. Der Monitor leuchtet auf. »johnjames«, gibt er ein. »Passwort vergessen?« »JohnJames«. Groß- und Kleinschreibung beachten.
Am 10. Mai 2005 um 8:35 schrieb Jasmeet Singh
Stell dir vor: Sudeep hat gestern Abend, nachdem du weg warst, versucht, mich zu küssen!
Am 11. Mai 2005 um 12:40 schrieb Albert James
Es nützt nichts, dieses oder jenes praktische Problem zu lösen, Jasmeet. Ehrlich nicht. Es kommt darauf an zu lernen, anders zu sein. Oder noch besser, zu lernen, wie man lernt, anders zu sein!
Am 11. Mai 2005 um 17:20 schrieb Jasmeet Singh
Ich muss mich beeilen; wir müssen in den Tempel, um den Brotteig zu kneten. (Kann ich Gurdwara sagen? Kennst du dieses Wort?)
John versucht, die E-Mails in chronologischer Abfolge zu lesen. Er ist ungeduldig. Er will nur Fakten, eine Skizze der Fakten, aber irgendetwas hält ihn davon ab, die letzten Nachrichten zuerst anzuklicken. Elaine liest immer die letzten Seiten eines Romans zuerst. Man hat mehr von einem Buch, sagt sie, wenn man sich nicht ständig fragt, wie es ausgeht. Dann hat man es beim Lesen nicht so eilig. John kann sich nur schwer vorstellen, dass das Sikh-Mädchen heute Morgen von zu Hause weggegangen ist. Sie hatte keine Tasche dabei. Nach dem Frühstück ist sielosgegangen, als wisse sie genau, wo sie hin wollte. Losgehumpelt vielmehr. »Ganz bestimmt ein Staubsturm, Sir«, beharrte der Kellner. »Ich wollte
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