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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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»Er hat zwar sein Visum, doch er fährt nicht mit. Es hat etwas in sich, finden Sie nicht, ein Visum zu haben und doch nicht mitzufahren? Es sieht ihm ähnlich. Er tat immer Unerwartetes. Vielleicht fährt er nicht, weil die Frau ihn im Stich ließ. Sie wurde bisweilen mit einem anderen gesehen. So fährt er denn nicht, weil ihn alles im Stich ließ, seine Freunde, die Frau, die Zeit selbst. Denn wissen Sie, er ist ja nicht der Mann, um solche Dinge erst noch zu kämpfen. Das lohnt sich ihm nicht. Er hat um Besseres gekämpft.« Ich unterdrückte ein Lächeln. »Um was soll denn der gekämpft haben?«
    »Um jeden Satz, um jedes Wort seiner Muttersprache, damit seine kleinen, manchmal ein wenig verrückten Geschichten so fein wurden und so einfach, daß jedes sich an ihnen freuen konnte, ein Kind und ein ausgewachsener Mann. Heißt das nicht auch, etwas für sein Volk tun? Auch wenn er zeitweilig, von den Seinen getrennt, in diesem Kampf unterliegt, seine Schuld ist das nicht. Er zieht sich zurück mit seinen Geschichten, die warten können wie er, zehn Jahre, hundert Jahre. Ihn hab ich übrigens eben gesehen.« – »Wo?« – »Er saß dahinten am Fenster gegen den Quai des Belges. Gesehen ist freilich übertrieben. Ich sah das Zeitungsblatt, hinter dem er sich verschanzt hielt.« Er stand halb auf und beugte sich seitlich. »Er ist nicht mehr hier. Er geht vielleicht aus sich heraus und wird sichtbar, sobald die Frau weg ist.«
    Ich fragte, um meine Beklommenheit zu verbergen, das erste beste, was mir einfiel: »Das Paulchen ist wohl schon abgehauen? Der ist ja auch ein findiger Bursche, der allerhand Macht hat.«
    Er lachte auf. »Sein eigenes Dossier in Ordnung zu bringen,so viel Macht hat er anscheinend doch nicht. Die Visen und Transits, ja, die gibt man ihm wohl auf sein Marseiller Papier ›Zwangsaufenthalt in Marseille‹. Doch leider gibt man den Hafenamtsstempel keinem, der ausgewiesen ist aus Marseille. Und eben das kleine Papierchen, worauf die Anweisung steht, wird dort gestempelt. Er wird nie richtig wegfahren können, das Paulchen, und nie richtig bleiben.«
IX
    Am nächsten Morgen ging ich hinauf zu Binnets. Ich war in meinem verworrenen Zustand schon lange nicht mehr bei ihnen gewesen. Der Junge saß mit dem Gesicht zum Fenster. Er machte Schulaufgaben. Er fuhr herum beim Klang meiner Stimme und starrte mich an mit aufgerissenen Augen. Auf einmal warf er sich gegen mich, weinte, weinte. Ich streichelte seinen Kopf, ich war bestürzt, ich wußte nicht, was ich aus diesen Tränen machen sollte. Claudine kam herzu und sagte: » Er hat geglaubt, du seiest abgefahren.« Er machte sich los und sagte ein wenig beschämt und schon wieder lächelnd: »Ich habe geglaubt, ihr fahrt alle.« – »Wie kannst du so etwas glauben? Ich habe dir doch versprochen, zu bleiben.« Ich lud ihn ein, um ihn ganz zu beruhigen. Wir gingen die Cannebière hinauf auf der Sonnenseite in unvergleichlicher Eintracht. Wir landeten schließlich in den Triaden. Ich sah hinaus auf das Tor des mexikanischen Konsulats. Die Spanier drängten sich, Männer und Frauen, von Polizisten bewacht. Ich ließ mir Tinte und Feder bringen, ich schrieb: »Herr Weidel hat mich beauftragt, Ihnen sein Visum zuzustellen, desgleichen sein Transit, sein Visa de sortie, sowie die Summe, die er zur Reise entliehen hatte. Ich habe gleichzeitig die Ehre, Ihnen sein Manuskript zu schicken, mit der Bitte, es seinen Freunden zu geben, die es sicher bewahren werden. Es ist nicht fertig gewordenaus demselben Grund, aus dem Weidel verhindert war, abzufahren.«
    Ich packte alles zusammen, bat den Jungen, hinüber zu gehen und alles dem Kanzler selbst zu geben. Ein Unbekannter, sollte er sagen, habe ihn um den Dienst gebeten. Ich sah ihm nach, wie er über den Platz lief und sich dann bei den Spaniern anstellte. Nach einer halben Stunde kam er heraus; ich freute mich, wie er sich zwischen den Bäumen gegen das Fenster bewegte. Ich rief begierig: »Was hat er gesagt?« – »Er hat gelacht. Dann hat er gesagt: ›Das war vorauszusehen.‹« Ich fühlte bei dieser Auskunft ein leises Unbehagen, als hätte der kleine Kanzler, kaum daß er mit seinen wachen Augen bei meinem ersten Besuch in das Dossier schaute, bereits meine ganze Geschichte aus diesem Buche des Lebens herausgelesen.
    Wie ich den Jungen bei seinen Leuten ablieferte, empfing mich Binnet. »Ich soll dir etwas bestellen von meinem Freund François.« Ich sagte: »Ich kenne keinen François.« –

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