Transit
»Gewiß, du kennst ihn. Du warst einmal bei ihm in seinem Seemannsverein mit einem kleinen Portugiesen. Er hat einem Deutschen geholfen, der wiederum auch dein Freund ist. Ein Einbeiniger. Der läßt dich grüßen, er sei gut angekommen. Er dankt dir auch. Er sei jetzt auch froh, dort drüben zu sein. Es gäbe dort drüben andere Völker, neue, junge. Er sei jetzt froh, das alles noch einmal zu sehen. Du sollst hier auf ihn warten.«
Er rührte sich seinen Seifenschaum, dabei fuhr er fort: »Für dich ist es richtig, zu bleiben. Was sollst denn du da drüben? Du gehörst zu uns. Was uns geschieht, geschieht dir.«
Ich rief: »Das hat er mir alles sagen lassen?« – »Ach was, das sage ich dir. Wir kennen dich, wir sagen dir alle dasselbe: Man sagt es dir.«
X
Das Schiff war kaum einen Tag unterwegs, da kam ein Brief von Marcel, ich könne jetzt auf die Farm, meine Ankunft sei sogar erwünscht, denn die Frühjahrsarbeit habe begonnen. Ich beruhigte Binnets Jungen, meine Abfahrt bedeute keine Trennung, ich sei so nahe von Marseille, daß er mich jederzeit leicht besuchen könne.
Ich bin nicht auf Landarbeit versessen, ich bin durch und durch Städter. Doch Marcels Verwandte sind ebenso redliche Leute wie ihre Angehörigen in Paris. Die Arbeit ist erträglich. Das Dorf liegt nicht weit vom Meer an einem Ausläufer der Berge. Ich bin jetzt ein paar Wochen dort. Mir kommen sie wie Jahre vor, so schwer wiegt die Stille. Ich schrieb einen Brief an Yvonne, in dem ich sie noch einmal um einen Sauf-conduit bat. Denn das Gesetz ist immer noch gültig, daß man Genehmigung braucht, um seinen Aufenthaltsort zu wechseln.
Ich ging zum Dorfbürgermeister mit allen neuen einwandfreien Papieren. Ich stellte mich als eine Art Saarflüchtling vor, der den Winter in einem anderen Departement verbracht hat und nun zur Arbeit ans Meer fährt. Er hielt mich nach meiner Ankunft für einen entfernten Verwandten Binnets. So gibt mir denn diese Familie, gibt mir dieses Volk bis auf weiteres Obdach. Ich helfe beim Säen und Entraupen. Wenn die Nazis uns auch noch hier überfallen, dann werden sie mich vielleicht mit den Söhnen der Familie Zwangsarbeit machen lassen oder irgendwohin deportieren. Was sie trifft, wird auch mich treffen. Die Nazis werden mich keinesfalls mehr als ihren Landsmann erkennen. Ich will jetzt Gutes und Böses hier mit meinen Leuten teilen, Zuflucht und Verfolgung. Ich werde, sobald es zum Widerstand kommt, mit Marcel eine Knarre nehmen. Selbst wenn man mich dann zusammenknallt, kommt es mir vor, man könne mich nicht restlos zum Sterben bringen. Es kommt mir vor, ich kennte das Land zu gut, seine Arbeit und seine Menschen, seineBerge und seine Pfirsiche und seine Trauben. Wenn man auf einem vertrauten Boden verblutet, wächst etwas dort von einem weiter wie von den Sträuchern und Bäumen, die man zu roden versucht.
Gestern bin ich wieder einmal hierhergefahren, um Claudine etwas Gemüse zu bringen und Obst für den Jungen, den ich mit ernähren helfe. Man findet ja hier nicht einmal mehr eine Zwiebel. Ich setzte mich zuerst in den Mont Vertoux. Ich hörte mir all den Hafenklatsch an, der mich gar nichts mehr anging. Ich hatte nur eine schwache Erinnerung, schon einmal irgendwo ein ähnliches Geschwätz angehört zu haben. Da kam mir die Nachricht zu Ohren, die »Montreal« sei untergegangen. Mir kam es vor, das Schiff sei in uralten Zeiten abgefahren, ein Sagenschiff, ewig unterwegs, dem Fahrt und Untergang zeitlos anhaften. Die Nachricht hinderte keineswegs ganze Scharen von Flüchtlingen, um Vorbuchung für das nächste Schiff zu betteln. Ich wurde bald dieses Geredes so überdrüssig, daß ich mich hierher in die Pizzaria zurückzog. Ich setzte mich mit dem Rücken zur Tür, denn jetzt erwarte ich nichts mehr. Doch jedesmal, wenn die Tür aufging, fuhr ich wie früher zusammen. Ich strengte mich gewaltsam an, meinen Kopf nicht zu wenden. Doch jedesmal maß ich vor mir den neuen dünnen Schatten auf der weißgetünchten Wand. Marie konnte ja wieder auftauchen, wie Schiffbrüchige unversehens durch eine wunderbare Rettung an einer Küste erscheinen, oder wie der Schatten eines Toten mit Opfer und inbrünstigem Gebet der Unterwelt entrissen wird. Der abgerissene Fetzen von einem Schatten vor mir auf der Wand suchte noch einmal Anschluß an Fleisch und Blut. Ich konnte den Schatten an meinem eigenen Zufluchtsort in dem abgelegenen Dorf verstecken, wo er noch einmal aller Hoffnungen und aller Gefahren gewärtig
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