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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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ihm zustand. Er war stärker als ich. Mir blieb nichts anderes übrig als fortzugehen. Was hätte ich auch entgegensetzen können? Womit sie überzeugen? Wozu überzeugen? Und dann, wie sinnlos es mir auch jetzt vorkommt, war ich von ihrer Torheit einen Augenblick lang angesteckt. Was wußte ich denn über diesen Toten? Nichts als das Geschwätz einer boshaften Wirtin. Wie, wenn er wirklich noch lebte? Wie, wenn ihn Achselroth wirklich gesehen hätte? Nicht durch die Ewigkeit von uns getrennt, sondern nur durch ein Zeitungsblatt, in das er sich zwei Löchlein gebohrt hatte, um uns ungestört zu beobachten und Verwicklungen anzuspinnen, mit denen verglichen die unseren kümmerlich waren?
    Ich traf den Arzt auf der Treppe. Er lud mich zu einem Aperitif ein, dem letzten, zu dritt, in den Mont Vertoux. Ich glaube, ich murmelte etwas von Alkoholverbotstag.
VI
    Ich ging in die Rue de la République. Die Transports Maritimes war schon offen. Ich trat an den Schalter und fragte, ob ich mein Billett noch zurückgeben könnte. Der Beamte am Schalter riß Maul und Augen auf. Obwohl ich nur mit ihm flüsterte, entstand, bevor er mich selbst noch richtig verstanden hatte, in dem wartenden Haufen das Gerücht, ein Billett sei zurückgegeben. Ja, dieses Gerücht mußte unglaublich schnell bis in die Stadt gedrungen sein. Denn plötzlich wurden die Türen gestürmt, die Rippen wurden mir beinah gegen den Schalter zerknackt, die schwächlichsten, hilflosesten Menschen kamen drohend und wild in letzter unsinniger Hoffnung, da sei einBillett zurückgegeben. Doch der Beamte hob nur seine Arme und fluchte, da legte sich das Gerücht, die Menschen schrumpften zusammen und schlichen fort, der Beamte versteckte mein Billett in einer kleinen seitlichen Schublade. Ich verstand, daß es schon vorausbestimmt war, für einen, der sich das erste freie Billett hatte vormerken lassen, und für diese Vormerkung etwas bezahlt hatte, was all diese Menschen nicht zahlen konnten, eine andere Art von Mensch, der sich niemals anstellen würde für ein Billett, sondern vormerken lassen, ein Mensch, der Macht hatte. Da runzelte denn der Beamte seine Stirn, indem er die Schublade abschloß, er preßte den Mund in einem verkappten Lächeln zusammen wie einer, der auch keinen Schaden leidet.
VII
    Ich lag die ganze Nacht wach. Ich hörte hinter der Wand die letzten zärtlichen Worte des Mannes, der morgen abfahren wollte und seine Liebste zurückließ mit einem Kind, das er niemals sehen würde. Es war noch stockdunkel, da hörte ich schon auf der Treppe die aufgeregten Stimmen des Elternpaares, die zu dem verlorenen Sohn fuhren. Ich kleidete mich an. Ich ging hinunter, die Source wurde gerade geöffnet, ich war der erste Gast. Ich schluckte einen bitteren Kaffee, dann lief ich über den Belsunce. Die Netze waren zum Trocknen gelegt. Ein paar Frauen, die ganz verloren aussahen auf dem riesigen Platz, flickten an den Netzen. Das hatte ich noch nie gesehen, ich war noch nie so früh über den Belsunce gegangen. Ich hatte bestimmt das Wichtigste in der Stadt noch nie gesehen. Um das zu sehen, worauf es ankommt, muß man bleiben wollen. Unmerklich verhüllten sich alle Städte für die, die sie nur zum Durchziehen brauchen. Ich sprang vorsichtig über die Netze weg. Die ersten Läden wurden geöffnet, die ersten Zeitungsjungen schrien.
    Der Zeitungsjunge, die Fischerfrauen auf dem Belsunce, die Händlerinnen, die ihre Läden öffneten, die Arbeiter auf dem Weg zur Frühschicht, sie alle gehörten zur Menge derer, die nie abfahren, mag geschehen, was will. Der Einfall, abzufahren, kommt ihnen so wenig wie einem Baum oder einem Grasbüschel. Und wenn ihnen auch der Einfall käme, für sie gibt es keine Billette. Die Kriege sind über sie weggegangen und die Feuersbrünste und die Rache der Mächtigen. Wie dicht auch immer die Haufen von Flüchtlingen waren, die alle Heere vor sich trieben, sie waren geringfügig im Vergleich zu denen, die trotzdem geblieben sind. Was wär auch aus mir, dem Flüchtling, in all den Städten geworden, wenn sie nicht geblieben wären! Sie waren mir, dem Waisen, Vater und Mutter, sie waren mir, dem Geschwisterlosen, Bruder und Schwester.
    Ein junger Bursche half seiner Liebsten den schweren Torflügel einhaken. Dann half er ihr unglaublich schnell das eiserne Öfchen einrichten, auf dem sie Pizza buk. Schon drängten sich Pizzakäufer. Drei Straßenmädchen, die schlapp aus dem nächsten Haus kamen, in dem die rote Ampel noch brannte, ein

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