Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
Vom Netzwerk:
Autobusschaffner, Geschäftsleute. Die Pizzabäckerin, ohne schön zu sein, glich doch den Schönsten der Schönen. Sie glich allen Frauen der alten Sagen, die immer jung bleiben. Sie hatte immer auf diesem Hügel am Meer auf ihrem uralten Gerät die Pizza gebacken, als andere Völker dahergezogen waren, von denen man heute nichts mehr weiß, und sie wird auch immer noch Pizza backen, wenn andere Völker kommen. Mein Wunsch, Marie noch einmal zu sehen, war stärker als mein Wille. Ich trat, um Abschied zu nehmen, in den Mont Vertoux. Marie saß auf demselben Platz, auf dem ich gesessen hatte, als sie zum erstenmal in den Mont Vertoux gekommen war. Sie sah so glücklich aus, daß ich selbst lächelte. Wenn jemand uns beobachtet hätte, er würde sicher geglaubt haben, das weiße Papier, das sie schwenkte, betreffe unsere gemeinsame Zukunft.Doch war es der Titre de Voyage mit allen zur Abreise nötigen Stempeln.
    »Ich fahre«, rief sie, »schon in zwei Stunden.« Ein Wind von Freude bewegte ihr Haar und straffte ihre Brust und ihr Gesicht. »Du darfst leider nicht in den Hangar kommen. Wir können uns ebensogut gleich verabschieden.« Ich hatte mich noch nicht gesetzt. Sie stand jetzt auf und legte mir ihre Hände auf die Schultern. Ich hatte gar kein Gefühl, nur das Vorgefühl eines Schmerzes, der mich sicher gleich treffen würde, vielleicht sogar tödlich treffen. Sie sagte: »Wie warst du doch gut zu mir!« Sie küßte mich rasch rechts und links, wie es in diesem Lande üblich ist. Ich nahm ihren Kopf zwischen meine Hände und küßte sie.
    Da sagte der Arzt, der plötzlich an unseren Tisch getreten war: »Hier wird wohl Abschied gefeiert?« – »Ja«, sagte Marie, »wir sollten gleich etwas zusammen trinken.« Er sagte: »Dazu ist leider keine Zeit. Du mußt sofort auf die Transports Maritimes. Du mußt deine Unterschrift unter die Gepäckversicherung geben. Wenn du nicht doch lieber hierbleiben willst –«
    Er war offenbar seiner Sache jetzt völlig sicher. Zu sicher, wie mir schien. Wir sahen beide die Frau an. Sie strahlte gar nicht mehr. Sie sagte mit einem sanften unmerklichen Spott: »Ich habe wohl schon einmal versprochen, dir zu folgen bis ans Ende der Welt.« – »Dann lauf auf die Transports Maritimes und gib deine Unterschrift!«
    Sie gab mir die Hand und ging wirklich weg, endgültig, für immer. Ich dachte, wie man bei einem Schuß oder Schlag denkt, ich müsse jetzt gleich den unerträglichen Schmerz fühlen. Doch der Schmerz blieb völlig aus. Ich hörte nur immer noch weiter den Klang ihrer letzten Worte: bis ans Ende der Welt – Ich schloß die Augen. Ich sah einen grüngestrichenen Zaun mit welken dünnen Winden. Ich sah nicht über den Zaun, ich sah nur die raschen Herbstwolken in den Latten, ich mußte noch sehr klein sein, ich dachte, das sei das Ende der Welt.
    Der Arzt sagte: »Mir bleibt nur übrig, Ihnen für alles zu danken. Sie haben uns geholfen.« Ich erwiderte: »Das war bestimmt nur ein Zufall.« Er wandte sich nicht sofort ab. Er sah mich scharf an. Er schien auf etwas zu warten, wovon er vielleicht ein Vorzeichen in meinem Gesicht erblickte. Ich aber schwieg, so daß er sich schließlich nur kurz verbeugte und ging.
    Ich setzte mich endlich allein an meinen Tisch. Ich war belustigt über die höfliche, kurze, stramme Verbeugung, die alles auf einmal beendigte. Doch war es eine traurige Belustigung. Denn plötzlich, ich weiß nicht, warum gerade jetzt, ergriff mich der Kummer um den Toten, den ich nie im Leben gekannt hatte. Wir waren zusammen zurückgeblieben, er und ich. Und niemand war da, um ihn zu trauern, in diesem von Krieg und Verrat geschüttelten Land, niemand war da, um ihm ein wenig von dem zu erweisen, was man die letzte Ehre nennt, als ich in dem Gasthaus am Alten Hafen, der sich mit dem anderen um die Frau des Toten gestritten hatte.
    Der Mont Vertoux hatte sich dicht gefüllt. In vielen Sprachen schlug sein Geschwätz an mein Ohr: von Schiffen, die nie mehr abgehen würden, von angekommenen, gescheiterten und gekaperten Schiffen, von Menschen, die in die Dienste der Engländer gehen wollten und in die Dienste de Gaulles, von Menschen, die wieder ins Lager zurück mußten, vielleicht auf Jahre, von Müttern, die ihre Kinder im Krieg verloren hatten, von Männern, die abfuhren und ihre Frauen zurückließen. Uraltes frisches Hafengeschwätz, phönizisches und griechisches, kretisches und jüdisches, etruskisches und römisches.
    Ich habe damals zum erstenmal

Weitere Kostenlose Bücher