Transit
wäre, die das Leben der echt Lebendigen belauern.
Bei einer Wendung der Lampe oder nur beim Schließen der Tür verblaßte der Schatten an der Wand wie das Trugbildin meinem Kopf. Ich sah nur noch auf das offene Feuer, das ich nie müde werde, zu betrachten. Ich könnte mir höchstens noch einmal ausmalen, daß ich bang auf sie wartete wie früher am gleichen Tisch. Sie läuft noch immer die Straßen der Stadt ab, die Plätze und Treppen, Hotels und Cafés und Konsulate auf der Suche nach ihrem Liebsten. Sie sucht rastlos nicht nur in dieser Stadt, sondern in allen Städten Europas, die ich kenne, selbst in den phantastischen Städten fremder Erdteile, die mir unbekannt geblieben sind. Ich werde eher des Wartens müde als sie des Suchens nach dem unauffindbaren Toten.
Nachwort
Transit – die Bandbreite der Interpretationen des nach einer englischen und einer spanischen Ausgabe 1944 erstmals 1948 in deutscher Sprache veröffentlichten Romans belegt es eindrucksvoll – gehört zu den vielschichtigsten Prosawerken im Schaffen Anna Seghers’, und sie selbst hat nicht zuletzt dazu beigetragen, die scheinbaren Widersprüche und Vertracktheiten, die der Roman aufweist, eher zu verstärken als aufzuklären. Auf diese Weise unterlief sie mit subversiver Freundlichkeit sowohl die interpretative Reduktion des Romangehalts auf die autobiographisch zentrierte zeitgeschichtliche Dokumentation, als auch seine nebulöse Auflösung in Richtung existentieller menschlicher Grundsituation. Die Erzähler-Figur des Romans bringt es auf den Punkt: Alle Einzelheiten stimmten. Was machte es aus, daß das Ganze nicht stimmte?
Im Unterschied zu den Selbstaussagen Seghers’, in denen sie erklärte, das Buch sei in jener Zeit und Situation entstanden, von der es erzählte, also im Winter 1940/41 in Marseille, berichtete ihr Sohn, Pierre Radvanyi, im Gespräch mit Friedrich Albrecht: Die Idee zu dem Buch hatte sie […] auf dem Schiff, auf der Überfahrt. Sie wollte sich distanzieren von den schlimmen Erlebnissen. […] In Mexiko hat sie das Buch erst richtig geschrieben. […] Das Hauptanliegen von »Transit« war diese ironische Distanzierung von den fürchterlichen Ereignissen. Das hat sie aufgeschrieben (in: Sinn und Form 1990, H. 3). Über den in Frage stehenden Zeitraum hingegen schrieb Anna Segherswährend der Überfahrt an Freunde: Ich habe das Gefühl, ich wäre ein Jahr tot gewesen.
Tatsächlich verarbeitete die Autorin natürlich zeitgeschichtliche Ereignisse und biographische Erlebnisse aus jenen Jahren, denn das entsprach ihrem Verständnis von realistischer Schreibweise. Die Besetzung und Kapitulation Frankreichs im Sommer 1940, die Flucht aus dem besetzten Paris und die Rückkehr dorthin, die Flucht aus dem besetzten Gebiet in die »Zone libre« jenseits der Loire, die Internierung deutscher Flüchtlinge, die Selbstmorde deutscher Emigranten (darunter Walter Benjamin in Port Bou und Ernst Weiß in Paris), die Suche nach Fluchtwegen über die Pyrenäen und über die französischen Hafenstädte, die Jagd nach Aufenthalts- und Reisedokumenten und schließlich, mit der weiteren Flucht nach Übersee (Seghers verließ mit ihrer Familie auf einem Frachtschiff Marseille im März 1941 und erreichte im November 1941 Mexiko), der Abschied von dem von den Nationalsozialisten unbewohnbar gemachten Europa – dies alles hat Anna Seghers erlebt, wie zahllose andere Emigranten auch, man denke etwa an Berichte wie Mein Weg über die Pyrenäen . Erinnerungen 1940/41 von Lisa Fittko oder Exil in Frankreich von Alfred Kantorowicz. Seghers ging es in Transit um mehr und anderes als um ein dokumentarisches Abbild der Realität jener Zeit. In diesem Roman stehen – wie übrigens auf andere Weise auch in der 1943/44 entstandenen Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen und in dem späteren Roman Das Vertrauen (1968) und in Überfahrt (1971) – das Schreiben, das Erzählen, die Aufgabe und die Verantwortung des Schriftstellers zur Diskussion.
Während sie noch an ihrem Deutschlandroman Das siebte Kreuz schrieb, beteiligte sich Anna Seghers in zwei Briefen (1938/39) an den marxistischen Literaturtheoretiker Georg Lukács an der sogenannten Realismusdebatte, in welcher die Frage, welche Stilmittel, Schreibweisen und Traditionen antifaschistische Literatur nutzenund ausbilden könne, äußerst kontrovers unter den Emigranten diskutiert wurde. Mit der ihr eigenen Beharrlichkeit verteidigte Anna Seghers eine an der Erfahrung, nicht an der Doktrin
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