Windbruch
1
„Herr Dr. Sieverts, als Sie in
der Besprechung waren, kam ein Anruf aus Tokio rein. Irgendwas ist da mit der
Anlage schief gelaufen. Sie müssten sich mal darum kümmern.“
Maarten Sieverts nickte knapp und
runzelte verärgert die Stirn. Schon wieder Tokio. Da gab es ständig Probleme.
„Am besten fliege ich selbst mal hin und schau mir die Sache an“, sagte er dann
zu seiner jungen Assistentin und legte ihr zwei prall gefüllte Aktenordner auf
den Schreibtisch. „Wie sieht es terminlich aus?“
„Mitte nächsten Jahres wäre noch
was frei oder ansonsten dann im übernächsten Jahr“, vermeldete Franziska Bintz
sarkastisch und hob abwehrend die Hände. „Und sagen Sie jetzt bloß nicht Das
machen Sie schon, Franziska . Ich bin gerade froh, dass ich ihr Date in
Johannesburg für kommenden Monat auf die Reihe bekommen hab.“
„Ach, das machen Sie schon,
Franziska“, sagte Maarten und versuchte ein Lächeln, was aber prompt in einem
Gähnen mündete. „Entschuldigung“, murmelte er, während er sich die müden Augen
rieb und fügte dann hinzu: „Und buchen Sie für sich doch bitte auch einen
Platz, ich brauche Sie dort drüben.“ Damit wandte er sich seinem Büro zu.
„Sie sollten mal Urlaub machen,
Herr Dr. Sieverts“, rief ihm Franziska hinterher, als er gerade mit einem Verbinden
Sie mich bitte mit Tokio hinter seiner Bürotür verschwand.
„Ja, ja, sicher“, brummte Maarten
und zog die Tür hinter sich zu. Urlaub machen. Wie ging das auch noch? Sein Doktorvater
hatte mal zu ihm gesagt Wer Urlaub braucht, hat den falschen Job . Kurz
darauf war er einem Herzinfarkt erlegen. Damals hatte Maarten sich geschworen,
dass er es nie soweit kommen lassen würde. Und jetzt?
Mit einem tiefen Seufzer ließ er
sich in seinen Schreibtischstuhl fallen und ließ seinem Blick über die
imposante Skyline von Manhatten schweifen. In letzter Zeit hatte er tatsächlich
das Gefühl, dass ihm alles über den Kopf wuchs. Erst gestern war er mitten in
der Nacht aus Moskau zurückgekehrt, morgen ging es weiter nach Los Angeles,
dann nach Buenos Aires. Und jetzt auch noch Tokio. Ein kaum merkliches Grinsen
huschte über sein Gesicht, als er an die Reaktion seiner Assistentin dachte.
Natürlich würde sie es hinbekommen, dass er in der japanischen Hauptstadt
kurzfristig nach dem Rechten sehen konnte. Sie war erst seit einem knappen
halben Jahr hier in New York und er hatte sie ganz zufällig bei einem Geschäftstermin
getroffen. Ihre frische Art hatte ihm sofort gefallen, genauso wie ihr immer
leicht amüsierter Blick, der beständig den Eindruck erweckte, als würde sie das
alles hier nicht so ernst nehmen. Sie war nicht wirklich hübsch zu nennen mit
ihrer von Sommersprossen übersäten Stupsnase, den etwas zu weit auseinander
stehenden Augen und den meistens in alle Richtungen verwirbelten Haaren. Und
für seinen Geschmack war sie auch ein wenig zu dünn. Aber sie hatte eindeutig
eine Ausstrahlung, die ihn vom ersten Augenblick an fasziniert hatte. Und sie
war mit Abstand die beste Assistentin, die er jemals gehabt hatte. Ja, sie war
einfach Gold wert, ein absoluter Glücksgriff. Ab und zu klopfte er sich immer
noch vor dem Spiegel auf die Schulter, weil er damals so geistesgegenwärtig
gewesen war, ihr ohne besonderen Anlass seine Visitenkarte zu überreichen. Und
wie es der Zufall wollte, hatte sich seine alte Assistentin wenig später
unsterblich in einen Cowboy verliebt und war mit ihm nach Texas gegangen. Maarten
wusste bis heute nicht, woher Franziska davon Wind bekommen hatte. Auf jeden
Fall hatte sie schon sehr bald mit einem Hier bin ich vor seiner Tür
gestanden – und schon am nächsten Tag ihren neuen Job angetreten. Lange hatte
er überlegt, an wen ihn Franziska erinnerte. Und dann war es ihm ganz
plötzlich, von einem Moment auf den anderen, klar geworden. Mit ihrer Gestik
und ihrer Art zu sprechen erinnerte sie ihn an Swaantje, seine kleine
Schwester. Auch die war immer ein kleiner Wirbelwind gewesen, und auch sie
hatte immer ganz offen das ausgesprochen, was sie dachte. Was nicht immer allen
Freude machte, aber das scherte sie nicht. Sie war wie sie war und das war auch
gut so, fand sie. Ach ja, die kleine Swaantje …
„Herr Dr. Sieverts, ich habe
Tokio am Apparat. Ich stelle durch“, wurde Maarten in seinen Gedanken jäh von
Franziskas Stimme unterbrochen. „Und hier ist ein Fax gekommen, wirklich ganz
entzückend, muss ich schon sagen.“ Damit legte Franziska auf.
Maarten
seufzte. Vorbei
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