Transit
Internationalen zu kommen, wo er dann sein Bein verlor, und einbeinig war er weitergeschleppt worden durch alle Konzentrationslager Frankreichs, zuletzt ins unseres. Wo war er jetzt?
Es wird deutlich: diese Zeit der Krise und der Kriege war nur schwierig zu ertragen und noch schwieriger zu gestalten; sie forderte einen anderen Einsatz als den Strobels, dem das Erlebte zum Material wurde und der andere im Stich ließ, um selber durchzukommen. Sie forderte den Einsatz des Lebens unter Aufbietung aller Kräfte, wie Weidel, Heinz und der Erzähler es versuchten. Bedeutet dies das Ende der Literatur?
Liest man den Roman Transit genau, erfährt man anderes: Orientiert und gestärkt durch die Lektüre des zwar unvollendeten, aber in seiner faszinierenden Gestaltung und lebensnahen Thematik tief und nachhaltig wirkendenManuskripts Weidels gelingt es dem Erzähler, die Transit-Welt und seine Rolle darin zu durchschauen und ihrer Flüchtigkeit Widerstand entgegenzusetzen. So gelingt es ihm, seine Identität zu bewahren. Transit ist das Zeichen dieser Zeit im umfassendem Sinn; gemeint ist nicht nur das Papier, das Visum, sondern das Transitäre dieser Welt, in der jeder jeden im Stich läßt. Der Erzähler lernt, solidarisch zu handeln; die Grundform dieses sozial-kommunikativen Verhaltens ist das Zuhören. Das Verhältnis von Leben zum Schreiben bzw. zum Erzählen wird im Roman überprüft mit dem Ergebnis, daß das Erzählen dieser krisenhaften Zeit deshalb zu entsprechen vermag, weil es die Kräfte der Menschen auf sich selbst und auf den Umgang und Austausch mit anderen konzentriert. Während das Schreiben ein einsames Geschäft ist, erfordert die Situation des Erzählens mindestens zwei Menschen. Der eine kann sich, während er seine Lebensgeschichte noch einmal durchdenkt und ordnet, seiner Identität vergewissern und eine Perspektive für sein weiteres Leben gewinnen, der andere kann, zuhörend, teilhaben an der Erfahrung seines Gesprächspartners, daraus Einsichten in eigene Probleme gewinnen und kann trösten und ermutigen. In dieser sozialen Funktion des Erzählens liegt seine Bedeutung in der flüchtigen Transit-Welt. Sie erlaubt es, das Alleinsein zu überwinden, Erfahrungen zu vermitteln und zu sich selber zu kommen. Das weiß auch der Erzähler; zwar hat er mit dieser vertrackten Phase seines Lebens abgeschlossen, aber es fehlt ihm noch etwas wichtiges: Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang bis zu Ende. Danach wird auch das Schreiben wieder möglich. Der Beweis steckt in Seghers’ Roman Transit.
Sonja Hilzinger
Oktober 1993
Informationen zum Buch
Flüchtlinge aus allen Ländern Europas treffen 1940 zu Tausenden in Marseille ein. Sie hetzen nach Visa, Stempeln, Bescheinigungen, ohne die sie den Kontinent nicht verlassen können. Im Chaos der Stadt, in den Cafés, auf der Jagd von Behörde zu Behörde kreuzen sich ihre Wege. Unter ihnen der Ich-Erzähler, der eine schmerzliche Liebe zu der Frau durchlebt, die rastlos ihren Mann sucht, an dessen Tod sie nicht glauben will. Mit falschen Papieren und - durch Zufall - mit der Hinterlassenschaft jenes Toten ausgestattet, erhält er durch glückliche Umstände eine Passage nach Übersee. Doch er gibt sie zurück. Auf ihrer eigenen Odyssee von Marseille nach Mexiko - unmittelbar unter dem Eindruck ihrer persönlichen Erlebnisse - begann Anna Seghers an diesem Roman zu arbeiten. Dennoch spiegelt er die Ereignisse nicht einfach wider, sondern ist ein Werk großer Kunst und Künstlichkeit, voll Ironie, Spiel und scheinbarer Leichtigkeit.
Mit diesem Band liegt die erste authentische Buchausgabe von »Transit« vor. Sie basiert auf der ersten deutschen Veröffentlichung in der »Berliner Zeitung« von August bis November 1947, die erheblich von allen bisherigen Buchpublikationen abweicht und sprachliche wie stilistische Eigenheiten der Autorin erhalten hat. Anmerkungen und Kommentar erläutern die komplizierte Geschichte und die vielschichtige Struktur des Romans, der, so Heinrich Böll, »zum schönsten wurde, den Anna Seghers geschrieben hat«.
Die neue Edition der Werke von Anna Seghers wird herausgegeben von Helen Fehervary und Bernhard Spies. Angelegt auf 24 Bände, umfaßt die Leseausgabe, an der international renommierte Forscher beteiligt sind, alle literarischen und theoretischen Schriften der Autorin - die veröffentlichten wie die noch nicht gedruckten -, ergänzt durch eine Auswahl der Briefe. Jeder Band enthält einen Anhang mit
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