Transparenzgesellschaft
Geschehens aufnehme, sei es, indem ich sie als anschauliche Historienbilder schätze: denn als Angehöriger einer Kultur (diese Konnotation ist im Wort Studium enthalten) habe ich teil an den Figuren, an den Mienen, an den Gesten, an den äußeren Formen, an den Handlungen.« 67 Bestünde die Kultur aus besonderen Figuren, Mienen, Gesten, Narrationen und Handlungen, so vollzöge sich die Pornografisierung des Visuellen heute als eine Entkulturalisierung. Die pornografischen, entkulturalisierten Bilder geben nichts zu lesen. Sie wirken wie Werbebilder unvermittelt, taktil und ansteckend. Sie sind posthermeneutisch. Sie gewähren nicht jene Distanz, in der ein Studium möglich wäre. Nicht Lektüre, sondern Ansteckung und Abreaktion ist ihr Wirkungsmodus. Ihnen wohnt auch kein punctum inne. Sie entleeren sich zum spectaculum. Die Pornogesellschaft ist eine Gesellschaft des spectaculums.
BESCHLEUNIGUNGSGESELLSCHAFT
Obszön wird Sartre zufolge der Körper, wenn er auf die bloße Faktizität des Fleisches reduziert wird. Obszön ist der Körper ohne Referenz, der nicht gerichtet, nicht in Aktion oder in Situation ist. Obszön sind die Bewegungen des Körpers, die überzählig und überschüssig sind. Sartres Theorie der Obszönität lässt sich auf den Gesellschaftskörper, auf seine Prozesse und Bewegungen übertragen. Sie werden obszön, wenn sie jeder Narrativität, jeder Richtung, jeden Sinns entkleidet werden. Ihre Überzähligkeit und Überschüssigkeit äußern sich dann als Verfettung, Vermassung und Auswucherung. Sie wuchern und wachsen ohne Ziel, ohne Form. Darin besteht ihre Obszönität. Obszön sind Hyperaktivität, Hyperproduktion und Hyperkommunikation, die sich über den Zweck hinaus beschleunigen. Obszön ist diese Hyperakzeleration, die nicht mehr wirklich bewegend ist und auch nichts zuwege bringt. In ihrem Exzess schießt sie über ihr Wohin hinaus. Obszön ist diese reine Bewegung, die sich um ihrer selbst willen beschleunigt: »Die Bewegung verschwindet weniger in der Unbewegtheit als in der Geschwindigkeit und der Beschleunigung, - sie löst sich in dem auf, was bewegter ist als die Bewegung, und, wenn man das so sagen kann, in dem, was die Bewegung ins Extrem treibt, indem es sie ihrer Richtung beraubt.« 68
Die Addition ist transparenter als die Narration. Beschleunigen lässt sich nur ein Prozess, der additiv und nicht narrativ ist. Ganz transparent ist allein die Operation eines Prozessors, weil sie rein additiv verläuft. Rituale und Zeremonien sind dagegen narrative Vorgänge, die sich der Beschleunigung entziehen. Es wäre ein Sakrileg, eine Opferhandlung beschleunigen zu wollen. Rituale und Zeremonien haben ihre Eigenzeit, ihren eigenen Rhythmus und Takt. Die Transparenzgesellschaft schafft alle Rituale und Zeremonien ab, weil sie sich nicht operationalisieren lassen, weil sie hinderlich sind für die Beschleunigung der Kreisläufe der Information, der Kommunikation und der Produktion.
Im Gegensatz zum Rechnen ist das Denken sich nicht transparent. Das Denken folgt nicht den vorausberechneten Bahnen, sondern begibt sich ins Offene. Hegel zufolge wohnt dem Denken eine Negativität inne, die es Erfahrungen durchmachen lässt, die es verwandeln. Die Negativität des Sich-Anders-Werdens ist konstitutiv für das Denken. Darin besteht der Unterschied zum Rechnen, das sich immer gleich bleibt. Diese Gleichheit ist die Bedingung der Möglichkeit der Beschleunigung. Die Negativität zeichnet nicht nur die Erfahrung, sondern auch die Erkenntnis aus. Eine einzige Erkenntnis kann das bereits Existierende in Gänze in Frage stellen und verwandeln. Der Information fehlt diese Negativität. Auch die Erfahrung hat Folgen, von denen die Kraft der Verwandlung ausgeht. Darin unterscheidet sie sich vom Erlebnis, das das bereits Existierende unangetastet lässt.
Die fehlende Narrativität unterscheidet den Prozessor von der Prozession, die ein narratives Ereignis ist. Im Gegensatz zum Prozessor ist sie stark gerichtet. Daher ist sie alles andere als obszön. Sowohl der Prozessor als auch die Prozession gehen auf das lateinische Verb procedere zurück, das »voranschreiten« bedeutet. Die Prozession ist in eine Narration eingespannt. Sie verleiht ihr eine narrative Spannung. Prozessionen stellen besondere Passagen einer Narration szenisch dar. Die Szenografie zeichnet sie aus. Aufgrund ihrer Narrativität wohnt ihnen eine Eigenzeit inne. Daher ist es nicht möglich und auch nicht sinnvoll, ihr
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