Transparenzgesellschaft
Ereignisse oder Reize ist nicht die Temporalität des Schönen. Die Schönheit ist ein Zögling, ein Nachzügler. Erst nachträglich enthüllen die Dinge ihre duftende Essenz des Schönen. Sie besteht aus temporalen Schichtungen und Ablagerungen, die phosphoreszieren. Die Transparenz phosphoresziert nicht.
Die Zeitkrise von heute ist nicht die Beschleunigung, sondern die temporale Zerstreuung und Dissoziation. Eine temporale Dyschronie lässt die Zeit richtungslos schwirren und zur bloßen Abfolge punktueller, atomisierter Gegenwart zerfallen. Dadurch wird die Zeit additiv und jeder Narrativität entleert. Atome duften nicht. Eine figurative Anziehung, eine narrative Schwerkraft muss sie erst zu duftenden Molekülen vereinigen. Nur komplexe, narrative Gebilde verströmen Duft. Da die Beschleunigung an sich nicht das eigentliche Problem darstellt, so besteht seine Lösung nicht in der Entschleunigung. Die Entschleunigung allein erzeugt keinen Takt, keinen Rhythmus, keinen Duft. Sie verhindert nicht den Sturz in die Leere.
INTIMGESELLSCHAFT
Die Welt des 18. Jahrhunderts ist ein theatrum mundi. Der öffentliche Raum gleicht einer Bühne. Die szenische Distanz verhindert den unmittelbaren Kontakt von Körpern und Seelen. Das Théâtrale ist dem Taktilen entgegengesetzt. Man kommuniziert über rituelle Formen und Zeichen, was die Seele entlastet. In der Moderne wird die theatralische Distanz zunehmend zugunsten der Intimität aufgegeben. Richard Sennett sieht darin eine verhängnisvolle Entwicklung, die dem Menschen die Fähigkeit nimmt, »mit externen Selbstbildern zu spielen und sie mit Gefühl zu besetzen«. 72 Formalisierung, Konventionalisierung und Ritualisierung schließen die Expressivität nicht aus. Das Theater ist ein Ort der Expressionen. Diese sind aber objektive Gefühle und keine Manifestation psychischer Innerlichkeit. Daher werden sie dargestellt und nicht ausgestellt. Die Welt ist heute kein Theater, in dem Handlungen und Gefühle dargestellt und gelesen werden, sondern ein Markt, auf dem Intimitäten ausgestellt, verkauft und konsumiert werden. Das Theater ist ein Ort der Darstellung, während der Markt ein Ort der Ausstellung ist. So weicht heute die theatralische Darstellung der pornografischen Ausstellung.
Sennett nimmt an, »daß Theatralität in einem spezifischen, und zwar feindlichen Verhältnis zur Intimität steht und in einem nicht minder spezifischen, aber freundschaftlichen Verhältnis zu einem entfalteten öffentlichen Leben«. 75 Die Kultur der Intimität geht mit dem Verfall jener objektiv-öffentlichen Welt einher, die kein Gegenstand intimer Empfindungen und Erlebnisse ist. Nach der Ideologie der Intimität sind die sozialen Beziehungen um so realer, echter, glaubhafter und authentischer, je näher sie den inneren, psychischen Bedürfnissen der Einzelnen kommen. Die Intimität ist die psychologische Formel der Transparenz. Man glaubt die Transparenz der Seele zu erreichen, indem man die intimen Gefühle und Emotionen offenbart, indem man die Seele entblößt.
Die sozialen Medien und personalisierten Suchmaschinen errichten im Netz einen absoluten Nahraum, in dem das Außen eliminiert ist. Dort begegnet man nur sich und seinesgleichen. Es ist keine Negativität mehr vorhanden, die eine Veränderung möglich machen würde. Diese digitale Nachbarschaft präsentiert dem Teilnehmer nur jene Ausschnitte der Welt, die ihm gefallen. So baut sie die Öffentlichkeit, das öffentliche, ja kritische Bewusstsein ab und privatisiert die Welt. Das Netz verwandelt sich in eine Intimsphäre oder in eine Wohlfühlzone. Die Nähe, aus der jede Ferne beseitigt ist, ist auch eine Ausdrucksform der Transparenz.
Die Tyrannei der Intimität psychologisiert und personalisiert alles. Auch die Politik entkommt ihr nicht. So werden die Politiker nicht an ihren Handlungen gemessen. Das allgemeine Interesse gilt vielmehr der Person, was bei ihnen einen Inszenierungszwang erzeugt. Der Verlust der Öffentlichkeit hinterlässt eine Leere, in die sich Intimitäten und Privatheiten ergießen. An die Stelle der Öffentlichkeit tritt die Veröffentlichung der Person. Die Öffentlichkeit wird dadurch ein Ausstellungsraum. Sie entfernt sich immer mehr vom Raum des gemeinsamen Handelns.
Person (lat. persona) heißt ursprünglich Maske. Sie gibt der Stimme, die durch sie hindurchtönt (per-sonare), einen Charakter, ja Form und Gestalt. Die Transparenzgesellschaft als Gesellschaft der Offenbarung und
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