Transparenzgesellschaft
procedere zu beschleunigen. Die Narration ist keine Addition. Dem procedere des Prozessors fehlt dagegen jede Narrativität. Sein Tun ist ohne Bild, ohne Szenen. Im Gegensatz zur Prozession erzählt er nichts. Er zählt nur. Die Zahlen sind nackt. Auch der Prozess, der ebenfalls auf das lateinische Verb procedere zurückgeht, ist bereits aufgrund seiner Funktionalität arm an Narrativität. Darin unterscheidet er sich vom narrativen Ablauf, der einer Choreografie oder Szenografie bedarf. Der funktional bestimmte Prozess ist dagegen nur ein Gegenstand der Steuerung oder des Managements. Die Gesellschaft wird obszön, wenn »es keine Szene mehr gibt und alles eine unerbittliche Transparenz bekommt«. 69
Pilger- und Wallfahrten werden auf dem letzten Abschnitt oft als Prozession gestaltet. Der Abschluss im strengen Sinne ist nur innerhalb einer Narration möglich. In einer entnarrativisierten, entritualisierten Welt ist das Ende nur noch ein Abbruch, der schmerzt und verstört. Nur im Rahmen einer Narration kann das Ende als Vollendung erscheinen. Ohne jeden narrativen Schein ist das Ende immer ein absoluter Verlust, ein absoluter Mangel. Der Prozessor kennt keine Narration, daher ist er zum Abschluss nicht fähig. Die Pilgerfahrt ist ein narratives Ereignis.
Aus dem Grund ist der Pilgerweg kein Durchgang, den es so schnell wie möglich zu durchschreiten gälte, vielmehr ein Weg, der reich an Semantik ist. Das Unterwegssein ist mit Bedeutungen wie Buße, Heilung oder Dank aufgeladen. Aufgrund dieser Narrativität lässt sich das Pilgern nicht beschleunigen. Der Pilgerweg ist außerdem ein Übergang zu einem Dort. Zeitlich ist der Pilger unterwegs zu einer Zukunft, in der ein Heil erwartet wird. In dem Sinne ist er kein Tourist. Der Tourist hält sich in der Gegenwart, im Hier und Jetzt auf. Er ist nicht unterwegs im eigentlichen Sinne. Die Wege haben keine eigene Bedeutsamkeit, denn sie sind nicht sehenswürdig. Dem Touristen ist die reiche Semantik, die Narrativität des Weges fremd. Der Weg verliert jede narrative Erzählkraft und wird zum leeren Durchgang. Obszön ist diese semantische Verarmung, die fehlende Narrativität von Raum und Zeit. Die Negativität in Form von Hindernis oder Übergang ist konstitutiv für die narrative Spannung. Der Transparenzzwang baut alle Grenzen und Schwellen ab. Transparent wird der Raum, wenn er geglättet, eingeebnet und entinnerlicht wird. Der transparente Raum ist arm an Semantik. Bedeutungen entstehen erst durch Schwellen und Übergänge, ja durch Widerstände. Auch die erste Raumerfahrung in der Kindheit ist eine Schwellenerfahrung. Schwellen und Übergänge sind Zonen des Geheimnisses, der Ungewissheit, der Verwandlung, des Todes, der Furcht, aber auch die der Sehnsucht, der Hoffnung und des Erwartens. Ihre Negativität macht die Topologie der Passion aus.
Die Narration übt eine Selektion aus. Die narrative Bahn ist schmal, sie lässt nur bestimmte Ereignisse zu. Dadurch verhindert sie die Wucherung und Vermassung des Positiven. Das Übermaß an Positivität, das die heutige Gesellschaft beherrscht, ist ein Hinweis darauf, dass ihr die Narrativität abhanden gekommen ist. Auch das Gedächtnis wird davon betroffen. Seine Narrativität unterscheidet es vom Speicher, der bloß additiv arbeitet und akkumuliert. Aufgrund ihrer Geschichtlichkeit sind die Gedächtnisspuren einer ständigen Umordnung und Umschriftung unterworfen. 70 Im Gegensatz zu ihnen bleiben die gespeicherten Daten sich gleich. Das Gedächtnis positivisiert sich heute zu einem Müll- und Datenhaufen, zu einem »Trödelladen« oder »Speicher, der mit Massen von allen möglichen, völlig ungeordneten, schlecht erhaltenen Bildern und abgenutzten Symbolen vollgestopft ist«. 71 Die Dinge im Trödelladen liegen bloß nebeneinander, sie sind nicht geschichtet. Daher fehlt ihm die Geschichte. Er kann sich weder erinnern noch vergessen.
Der Transparenzzwang vernichtet den Duft der Dinge, den Duft der Zeit. Die Transparenz duftet nicht. Die transparente Kommunikation, die nichts Undefiniertes mehr zulässt, ist obszön. Obszön ist auch die unmittelbare Reaktion und Abreaktion. Für Proust ist der »unmittelbare Genuß« nicht zum Schönen fähig. Die Schönheit einer Sache erscheint »erst viel später« im Licht einer anderen als Reminiszenz. Schön ist nicht der augenblickliche Glanz des Spektakels, der unmittelbare Reiz, sondern das stille Nachleuchten, die Phosphoreszenz der Zeit. Die schnelle Abfolge der
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