Transparenzgesellschaft
Element »punctum« durchbricht das »Studium«. Es verursacht kein Gefallen, sondern eine Verletzung, eine Ergriffenheit, eine Betroffenheit. Den einförmigen Fotografien fehlt das punctum. Sie sind nur Gegenstand des Studiums: »Reportagephotos sind sehr oft einförmige Photographien (das einförmige Photo ist nicht unbedingt friedlich). In diesen Bildern gibt es kein punctum: wohl den Schock - das Buchstäbliche kann traumatisieren -, doch keine Betroffenheit; das Photo kann ›schreiend‹ sein, doch es verletzt nicht. Diese Reportagephotos werden registriert (mit einem Blick), mehr nicht.« 59 Das punctum unterbricht das Kontinuum von Informationen. Es äußert sich als ein Riss, als ein Bruch. Es ist ein Ort höchster Intensität und Verdichtung, dem etwas Undefinierbares innewohnt. Ihm fehlt jede Transparenz, jede Evidenz, die das Studium auszeichnet: »Die Unfähigkeit, etwas zu benennen, ist ein sicheres Zeichen für innere Unruhe. [...] Die Wirkung ist da, doch läßt sie sich nicht orten, sie findet weder ihr Zeichen noch ihren Namen; sie ist durchdringend und landet dennoch in einer unbestimmten Zone meines Ichs [...].« 60
Zu den einförmigen Fotografien zählt Barthes auch die pornografischen Bilder. Sie sind glatt, transparent und weisen keine Brüche, keine Ambiguität auf. Risse und innere Gebrochenheit zeichnen aber das Erotische aus. Es ist weder glatt noch transparent. Das erotische Foto ist ein »gestörtes, rissiges« Bild. 61 In den pornografischen Bildern ist alles nach außen gekehrt und exponiert. Die Pornografie ist ohne Innerlichkeit, Verborgenheit und Geheimnis: »Wie ein Schaufenster, in dem, angestrahlt, nur ein einziges Schmuckstück gezeigt wird, geht sie vollkommen in der Zuschaustellung einer einzigen Sache auf: des Geschlechtes: nie ein zweites, unpassendes Motiv, das halb verdecken, verzögern oder ablenken würde.« 62 Obszön ist die Transparenz, die nichts verdeckt, verborgen hält und alles dem Blick ausliefert. Heute sind alle medialen Bilder mehr oder weniger pornografisch. Aufgrund ihrer Gefälligkeit fehlt ihnen jedes punctum, jede semiotische Intensität. Sie haben nichts, was ergreifen und verletzen würde. Sie bilden höchstens den Gegenstand von Gefällt mir / I Like.
Laut Barthes besitzen die kinematografischen Bilder kein punctum. Das punctum sei an ein kontemplatives Verweilen gebunden: »Vor der Leinwand kann ich mir nicht die Freiheit nehmen, die Augen zu schließen, weil ich sonst, wenn ich sie wieder öffnete, nicht mehr dasselbe Bild vorfände [...].« 6! Das punctum erschließe sich nur dem verweilenden, kontemplativen Betrachten. Die aufeinander folgenden Bilder dagegen zwängen den Betrachter, so Barthes, zu einer »ständigen Gefräßigkeit«. Das punctum entziehe sich dem konsumierenden, gefräßigen Blick, dem keine »Nachdenklichkeit« 64 innewohne. Es manifestiere sich oft nicht sofort, sondern erst nachträglich, in einem erinnernden Verweilen: »Es ist also nicht weiter erstaunlich, daß sich das punctum zuweilen, trotz all seiner Deutlichkeit, erst im nachhinein offenbart, wenn ich das Photo nicht mehr vor Augen habe und erneut daran denke. Es kann vorkommen, daß ich ein Photo, an das ich mich erinnere, besser kenne als eines, das ich vor mir sehe [...]. Ich hatte nun begriffen, daß man dem punctum, so unmittelbar und einschneidend es auch sein mochte, nach einer gewissen Latenz (nie jedoch mit Hilfe irgendeiner genauen Untersuchung) auf die Spur kommen konnte.« 65 Die »Musik« entstehe erst beim »Augenschließen«. So zitiert Barthes Kafka: »Man photographiert Dinge, um sie aus dem Sinn zu verscheuchen. Meine Geschichten sind eine Art von Augenschließen.« 66 Die Musik erklingt nur in einer kontemplativen Distanz zum Bild. Sie verstummt dagegen dort, wo ein unmittelbarer Kontakt das Auge mit dem Bild kurzschließt. Die Transparenz ist ohne Musik. Die Fotografie muss außerdem, bemerkt Barthes, »still sein«. Erst im »Bemühen um Stille« offenbart die Fotografie ihr punctum. Es ist ein Ort der Stille, der ein kontemplatives Verweilen möglich macht.
Man verweilt dagegen nicht vor den pornografischen Bildern. Sie sind schrill, laut, weil ausgestellt. Ihnen fehlt auch die temporale Weite. Sie lassen keine Erinnerung mehr zu. Sie dienen nur der unmittelbaren Erregung und Befriedigung.
Das Studium ist eine Lektüre: »Aus Studium interessiere ich mich für viele Photographien, sei es, indem ich sie als Zeugnisse politischen
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