Transzendenz
1
Das Mädchen aus der Zukunft hat mir erzählt, der Himmel sei voller sterbender Welten.
Man kann sie aus weiter Ferne sehen, wenn man weiß, wonach man Ausschau halten muss. Wird ein Stern alt, so heizt er sich auf, die Meere seiner Planeten verdunsten, und man sieht die Wasserstoff- und Sauerstoffwolken, die sich langsam zerstreuen. Sterbende Welten, in die Überreste ihrer Meere gehüllt, wie faules Obst in den Spiralarmen der Galaxis hängend: Das werden die Menschen vorfinden, wenn sie irgendwann einmal von der Erde ins All aufbrechen. Ruinen, Museen, Mausoleen.
Wie seltsam. Wie traurig.
Mein Name ist Michael Poole.
Ich bin nach Florida heimgekehrt. Allerdings nicht ins Haus meiner Mutter, das zunehmend Gefahr läuft, ins Meer zu rutschen.
Ich habe eine kleine Wohnung in Miami bezogen. Ich bin gern unter Menschen, höre gern den Klang ihrer Stimmen. Manchmal vermisse ich den Verkehrslärm, das scharfe Kratzen der Flugzeuge am Himmel, die Geräusche meiner Vergangenheit. Aber das Lachen der Kinder entschädigt mich dafür.
Das Wasser steigt noch immer. Es gibt viel Elend in Florida, viele Umsiedlungen. Ich verstehe das. Aber irgendwie mag ich das Wasser, die allmähliche Auflösung des Staates in einen Archipel. Der langsame, jeden Tag, jede Woche unterschiedlich starke Anstieg des Wasserspiegels gemahnt mich daran, dass nichts so bleibt, wie es ist, dass die Zukunft kommt, ob es uns nun gefällt oder nicht.
Die Zukunft und die Vergangenheit begannen mein Leben im Frühling des Jahres 2047 zu komplizieren, als ich einen zornigen Anruf meines älteren Bruders John erhielt. Er war hier, in unserem Haus in Miami Beach. Ich solle »heimkommen«, wie er sich ausdrückte, und ihm helfen, »Mom zur Vernunft zu bringen«. Natürlich flog ich hin. 2047 war ich zweiundfünfzig Jahre alt.
Als Kind war ich glücklich in Florida, in meinem Elternhaus. Natürlich hatte ich meistens ein Buch oder ein Spiel vor der Nase oder tat so, als wäre ich »Ingenieur«, und bastelte unablässig an meinem Rad oder meinen Inline-Skates herum. Die Welt außerhalb meines eigenen Kopfes nahm ich kaum wahr. Vielleicht ist das auch heute noch so.
Aber ganz besonders liebte ich den Strand hinter dem Haus. Vergessen Sie nicht, dies waren die neunziger Jahre des zwanzigsten oder die ersten Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts, als es in diesem Teil von Florida noch einen Strand gab. Ich weiß noch, wie ich immer von unserer Veranda mit ihren großen, ans Dach montierten Hängeschaukeln auf den Kiesweg zu den niedrigen Dünen trat und weiter zum Sandstrand hinunterging. Wenn man dort saß, konnte man Raumfähren und andere Wunder der Raketentechnik auf Cape Canaveral beobachten, die wie auffahrende Seelen in den Himmel stiegen.
Meistens sah ich mir diese Starts alleine an. Außer mir interessierte sich in meiner Familie niemand dafür. Aber einmal, ich glaube, so um das Jahr 2005 herum, besuchte uns mein Onkel George, der Bruder meiner Mutter aus England, und er kam mit mir hinaus, um sich einen nächtlichen Start anzusehen. Er wirkte so steif und alt, dass er kaum in der Lage schien, sich nieder ins struppige Dünengras zu setzen. Dabei war er damals wohl erst in den Vierzigern. George arbeitete in der Informationstechnologie; er war so eine Art Ingenieur, also eine verwandte Seele.
Natürlich ist das alles längst Vergangenheit. Die altehrwürdigen Startrampen, von denen sie zum Mond geflogen sind, wurden wegen der Klimaerwärmung, des ansteigenden Meeresspiegels, der unablässigen Stürme über dem Atlantik aufgegeben; Canaveral ist jetzt ein Themenpark hinter einem Deich. Ich glaube, ich hatte Glück, dass ich mir mit zehn Jahren solche Sachen anschauen konnte. Es war, als hätte sich die Zukunft in die Gegenwart zurückgefaltet.
Was hätte der zehnjährige Michael Poole wohl gedacht, wenn er gewusst hätte, was mir das Mädchen aus der Zukunft über all diese alten und sterbenden Welten dort draußen erzählt hat, die im All auf uns warten?
Und was hätte er wohl von der Transzendenz gehalten?
Irgendwie denke ich die ganze Zeit über diese seltsamen Ereignisse nach, über meinen Kontakt mit der Transzendenz. Es ist wie eine Sucht, etwas, dessen man sich ständig bewusst ist, das unmittelbar unter der Oberfläche vor sich hin brodelt, ganz gleich, auf welche Weise man sich abzulenken versucht.
Und doch kann ich mich nur noch an so wenig erinnern. Es ist so ähnlich, als jage man nach dem Erwachen einem
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