Traumfresser 3 - Die Alchemie des Bösen
Hände an ihren Mund, packte den Knoten mit den Zähnen und zerrte so lange daran, bis sich der erste Strang widerstrebend löste. Sie spuckte ihn aus und beeilte sich dann mit dem Rest, bis das Seil auf dem Boden lag. Sie griff nach einer Handvoll Stroh, um sich die Hände damit abzuwischen. Gorine betrachtete die wunden Striemen um seine Handgelenke. »Sie sollten die mit Salz und warmem Wasser abwaschen«, sagte Miss Temple. »Es wird wehtun, aber sonst schwellen Ihre Hände an.«
»Ich werde meinen Diener anweisen, gleich welches warmzumachen«, murmelte Gorine, blickte dann zu Miss Temple auf und erhaschte ein Lächeln. Er schüttelte den Kopf. »Sie sind eine seltsame Person.«
»Ich schlage vor, wir fliehen, ich weiß nur nicht, wohin. Meine Freunde sind verschwunden, wenn sie überhaupt noch am Leben sind.«
»Meine Freunde auch.«
»Sie haben Freunde?«
»Schockierend, ich weiß«, erwiderte Gorine. »Ein Mann namens Mahmoud. Eine Frau namens Madeleine Kraft.«
»Ich kenne sie nicht.«
»Warum auch, wenn Sie nichts mit unserem Gewerbe zu tun haben?«
»Das habe ich auch nicht.« Doch ein unschöner Gedanke ließ Miss Temple aufseufzen. »Außer Sie waren mit einer Frau namens Angelique bekannt.«
Gorine beugte sich vor. »Woher zum Teufel kennen Sie die?«
»Das ist ebenfalls ein Teil der langen Geschichte. Sie ist in Harschmort House gestorben.«
»Durch wessen Hand?«
Obwohl sie selbst die Kugel abgefeuert hatte, betrachtete Miss Temple die Antwort kaum als Lüge. »Des Comte d’Orkancz. Er hat schreckliche Dinge mit ihrem Körper angestellt, mit Maschinen.« Bevor Gorine seinem Zorn Luft machen konnte – ein Zorn, der, wie sie wusste, von der Scham über seine eigene Gefangenschaft befeuert wurde –, wechselte sie das Thema. »Tatsache ist, dass ich alles Mögliche weiß – vielleicht sogar mehr über Ihre Probleme als Sie selbst. Falls Sie jedoch erwarten, dass ich helfe, müssen Sie mir sagen, was Sie Colonel Bronque mitgeteilt haben.«
Gorine schnaubte ungläubig. »Wie wollen Sie mir helfen?«
»Ich habe bereits Ihre Hände losgemacht.«
»Dafür danke ich Ihnen. Doch heute Abend wurde mein Ge schäft zerstört. Meine Freunde – meine Familie –, sie alle sind verschwunden, und andere, für deren Wohlergehen ich verantwortlich bin, wurden gesetzlich belangt.«
Miss Temple ging wieder zur Tür. »Als Erstes müssen wir wohl den Stall verlassen.«
»Die Tür ist von außen verriegelt – und so fest, dass sie den Hufen eines Pferds widerstehen kann.«
»Aber ich bin kein Pferd.« Miss Temple ging in eine wenig damenhafte Hocke.
»Und was sind Sie, wenn ich fragen darf?«
Miss Temple lächelte, weil sie gern falsch eingeschätzt wurde. Es war nicht das erste Mal, dass man sie in einen Stall gesperrt hatte. Als Mädchen gehörte es zu den alltäglichen Unsitten, dass ein wütender Stallbursche den Riegel hinter ihr vorschob. Als Kelling sie in den Stall gestoßen hatte, hatte sie Ähnlichkeiten zum Stall ihres Vaters entdeckt: anstelle eines Holzbalkens waren die Türen in Hüfthöhe mit einem sichtbar stabileren Metallriegel verbunden, der außerdem durch eine im Boden verankerte Eisenstange fixiert wurde. Der Riegel ließ sich nicht bewegen, doch Miss Temple entdeckte, dass man die Eisenstange anheben konnte. Wenn man das tat und vorsichtig dagegendrückte, ließ sich die Tür Stück für Stück aufschieben, und schließlich würde der Riegel aus seiner Halterung gleiten.
Sie benötigte eine Minute, bis sie unter Ächzen und Stöhnen die Stange herausziehen konnte. Dann stand sie auf, wischte sich den Rost von den Händen und blickte hinüber zu Gorine. Er hatte sich nicht gerührt. Sie machte sich daran, die Türen aufzuschieben.
»Was tun Sie da?«, rief Gorine. »Wo haben Sie das gelernt?«
Der Riegel löste sich kratzend, und Miss Temple hielt die Tür fest, bevor sie weit aufschwang. Sie spähte hinaus. Der schäbige Innenhof war verlassen. Sie sah sich nach Gorine um.
»Es ist beinahe dunkel. Mit ein wenig Glück …«
Miss Temple schrie auf, als aus dem Nichts eine Gestalt in der Türöffnung erschien. Gorine wollte ihr zu Hilfe eilen, aber sie hatte sich bereits mit ausgestrecktem Arm umgedreht. »Ein Freund – es ist ein Freund!«
»Ich dachte mir, dass Sie das vielleicht sind, Miss! Wir haben nur wenig Zeit.« Cunshers Stimme war nur ein Flüstern, und Miss Temple ärgerte sich über ihren Aufschrei, vor allem nachdem sie so erfolgreich gewesen war.
»Das ist
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