Traumfresser 3 - Die Alchemie des Bösen
Miss Temple, denn sie stand der Einschätzung des Comte hinsichtlich einer solchen Frömmigkeit zu nahe. Nach seiner Auffassung, und somit auch nach ihrer, glichen solche Insignien der Trauer und Hoffnung dem Gekrakel von Kleinkindern.
Die Haut an ihrem Ellbogen brannte von ihrem Sturz, und weil sie ihn mit ihren Händen nicht erreichte, rieb sie ihn an ihrem Bauch. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt, als sie sich auf Vandaariff gestürzt hatte, doch Foison hatte sie einfach weggezogen. Im Zollhaus hatte er mit Wurfmessern zweimal nach ihrem Leben getrachtet. Sie war eine wertvolle Ware geworden.
Hinter einem Eisentor mit Spitzen erstreckte sich ein dämmriger Weg, von Grüften gesäumt. Das Tor befand sich zwischen ägyptischen Obelisken, deren Putz jedoch abgebröckelt war, sodass rote Ziegel zum Vorschein kamen, das Werk eines besonders skrupellosen Baumeisters.
Foison öffnete das Tor. Die Grüfte trugen keine Namen auf den Stürzen, nur Metallnummern, die auf dem Stein festgenagelt waren. Am Ende des Wegs war eine Gruft mit der Nummer acht, die quer stand. Foison wählte einen weiteren Schlüssel und betrachtete dann den Himmel über ihnen. Miss Temple wurde an eine Schlange erinnert, die ihre Zunge hervorschießen lässt.
Der Eingang zur Gruft öffnete sich knarrend. Drinnen schimmerte ein goldenes Licht, das immer heller wurde. Jemand erwartete sie.
Foison ging als Erster hinein. Er hielt weder eine Waffe bereit, noch hatte er eine Laterne. Miss Temple war die Nächste, wobei sie von einem Kerl mit einem Buschmesser vorwärtsgestoßen wurde, dann folgten der Reihe nach die anderen. Anstatt in eine schreckliche Gruft mit Nischen kamen sie in einen Vorraum mit glänzenden blauen Keramikfliesen. Die gegenüberliegende Wand war wie ein altes Stadttor gestaltet, dessen Oberkante mit Zinnen und schmalen Fenstern versehen war, die sämtlich erleuchtet waren.
»Der Eingang nach Babylon«, sagte Foison und entfernte ihren Knebel. »Das Ischtar-Tor.«
»Aha.« Miss Temple hatte das Gefühl, es sei nur eine Art ausgleichender Gerechtigkeit, dass untergegangene Kulturen untergegangen waren.
»Im Tempel von Ischtar herrscht ewiges Leben.«
Ein bruchstückhaftes Wiedererkennen kam aus den Erinnerungen des Comte. Miss Temple versuchte die Quelle zu bestimmen … war es das Licht? Sie sah weder Kerzen noch Laternen – das goldene Licht kam von der anderen Seite der blauen Wand.
Foison öffnete das Tor mit einem komplizierten Schlüssel, der einen Bart wie ein Dornenstrauch hatte. Seine Männer stießen Miss Temple hindurch und schlugen das Tor wieder zu. Sie begann zu schreien, nannte Foison einen Feigling und seinen Herrn eine entartete Kröte. Es erfolgte keine Antwort. Sie hörte, wie die Tür zur Gruft geschlossen und der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.
Die Gruft wurde ohne jegliche Laterne oder Kerze erleuchtet. Der Fußboden bestand aus Kupfer, nahezu auf Hochglanz poliert. Ihr fielen das Metall an den Wänden von Vandaariffs Raum und die Stahlplatten zwischen den Maschinen in Parchfeldt ein. Galliger Zorn brannte in ihrem Hals wie eine Schnittwunde, und sie wusste: Das Innenleben der Gruft hatte die Aufgabe, die Fähigkeiten des Comte unter Beweis zu stellen – ein unbekannter Künstler, auf den eine neue und vertraute Beraterin Vandaariff zum ersten Mal aufmerksam gemacht hatte, die Contessa di Lacquer-Sforza …
Miss Temple hob eine Hand und winkte, womit sie winzige Schatten erzeugte. Die geschmückte Decke war von Dutzenden Schächten durchsetzt, die bis zur Erdoberfläche reichten und das Sonnenlicht über Spiegel hereinlenkten und seine Strahlen mit Glas färbten.
Die Schächte bedeuteten allerdings auch, dass Miss Temple mit ihrer Annahme falschgelegen hatte. Niemand sonst hatte die Gruft betreten – sie war sich selbst überlassen. Sie sah sich nach einer scharfen Kante um, an der sie ihre Fesseln hätte aufschneiden können, doch Wände und Fußboden waren glatt. Das einzige markante Ding war eine Platte aus weißem Marmor, die in Form einer zurückgeschlagenen Decke gemeißelt war.
Zwei Namen standen darauf: Clothilde Vandaariff und, ganz frisch, Lydia Vandaariff. Weder Daten noch Inschriften waren den Namen beigefügt – und im Falle von Lydia Vandaariff konnte das Grab auch keinen Leichnam beherbergen. Miss Temple fragte sich, ob es ihr Schicksal war, als Lydias Stellvertreterin zu dienen.
Sie ließ sich gegen den Stein sinken. Ihr Unterarm pochte, und sie fühlte sich, als
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