Traumkristalle
Dogmatisierens hat sich die Weltanschauung jeder Zeit zu hüten, damit sie nicht mit dem Fortschritt der Erfahrung in Widerspruch gerate. Die Poesie ist dieser Gefahr entzogen, weil ihr das wissenschaftliche Zeitbewußtsein nur als Stoff dient. Ist es einmal durch die Dichtung in Form umgewandelt, so besitzt es eine neue Realität, eine eigene Bestimmung, die es unabhängig macht vom Wandel der Erkenntnis. Es besteht von nun ab nicht mehr als Ergebnis der Wissenschaft, sondern als Idee. Es gründet sein Bestehen nicht mehr auf Naturerkenntnis, sondern hat sein eigenes Leben im Reiche der Phantasie als jene Macht, die wir den schönen Schein nennen. Sie ist es, die das künstlerische Produkt unwiderlegbar macht, weil es auf eigenem, auf ästhetischem Gesetze beruht.
Gelingt es der Dichtung, die hypothetischen Bewohner der Planeten auf diesen Boden der ästhetischen Idee zu stellen, so können sie ihr von der Wissenschaft nicht bestritten werden, die ja über ihre physische Existenz nicht endgültig zu entscheiden vermag. Und fordert die Weltauffassung für uns Brüder in den Sternenweiten, so braucht auch sie keine Widerlegung durch die Astronomie zu fürchten.
Nachwort
Kurd Laßwitz, der eigentliche Begründer der deutschen Science Fiction, wurde 1848 in Breslau geboren. Er stammte aus gutbürgerlichem Elternhaus: Der Vater war Eisengroßhändler und zeitweise demokratischer Abgeordneter im Preußischen Landtag. Der junge Laßwitz besuchte das Gymnasium und begann sich früh für Naturwissenschaft und Philosophie zu interessieren. Er entschied sich für ein Studium der Mathematik und Physik in Berlin und promovierte mit einem naturwissenschaftlichen Thema: „Über Tropfen, die an festen Körpern hängen und der Schwerkraft unterworfen sind.“ Anschließend unterrichtete er bis zu seinem Tode als Gymnasiallehrer in Breslau und Gotha. Einer seiner Schüler war übrigens Hans Dominik.
Obwohl Laßwitz – nach allem, was darüber bekannt ist – ein gütiger und beliebter Pädagoge war und sicherlich auch mit starkem inneren Antrieb dieser Profession nachging, führte er ein zweites Leben außerhalb des Schulbetriebes, nämlich das eines Schriftstellers. Manchmal allerdings – einige der Erzählungen in diesem Band zeigen dies – kommt auch beim Autor Laßwitz der Lehrer zum Vorschein, der bestimmte Lehrinhalte über einen literarischen Text vermitteln möchte. Neben einigen Sachbüchern, darunter das bekannte wissenschaftliche Standardwerk Die Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton (1980), waren es vor allem utopische Romane und Kurzgeschichten (der Name Science Fiction war ja damals noch nicht geboren), mit denen Kurd Laßwitz an die Öffentlichkeit trat. Obwohl es ihm nicht vergönnt war, die Popularität seines französischen Zeitgenossen Jules Verne zu erreichen – dazu waren seine Werke zu philosophisch und zu wenig abenteuerlich und natürlich auch nicht so zahlreich –, erreichte sein bekanntestes Werk, Auf zwei Planeten (1897) zwischen 1897 und 1930 immerhin eine Gesamtauflage von 70000 Exemplaren und wurde mehrfach übersetzt. Die technisch-naturwissenschaftlichen Ideen in diesem Werk haben nachweislich eine Reihe von deutschen und ausländischen Technikern und Naturwissenschaftlern stark beeinflußt. Zwar gingen sie anschließend nicht daran, die dort geschilderte Raumstation – die übrigens schon eine Speichenradform hatte – zu bauen, aber der Roman setzte bei vielen von ihnen (etwa Wernher von Braun: „Ich werde nie vergessen, mit welcher Neugierde und Spannung ich in meiner Jugend diesen Roman verschlang“) jenen idealistischen Schwung in Gang, jene Besessenheit, mit der die frühen Weltraum – und Raketenforscher für ihre spätere Arbeit motiviert wurden.
Tatsächlich ist Auf zwei Planeten auch aus heutiger Sicht eine der reifsten und wichtigsten Romane der frühen utopischen Literatur, ein Klassiker im besten Sinne. Laßwitz kommt dabei das Verdienst zu, nicht nur mit großer Phantasie eine Reihe von technischen Innovationen wie beiläufig aus dem Ärmel geschüttelt, sondern auch ein Werk geschaffen zu haben, das tiefempfundenen Humanismus ausdrückt und einem philosophischen Konzept folgt. Laßwitz war überzeugter Kantianer, der den kategorischen Imperativ Kants („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“) verinnerlicht hatte. Er lebte danach und schrieb entsprechend. Kantsche Philosophie ist
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